T-18 TATIANA

Der Fluß war erstaunlich ruhig, sie sahen keine Strömung, kein Schiff kam ihnen entgegen. Nur einige Spaziergänger waren vor ihnen. Ramirer hatte Tatiana da schon an der Hand gefaßt, worauf sie ihn erstaunt angeblickt hatte, und so gingen sie im schnellen Gleichschritt mit schwingendem Doppelarm in ihrer Mitte an dem Paar mit dem Hund vorbei, auch an zwei einsamen Fischern.

Eine der Lampen, die langsam aufleuchteten, begann zu zucken, als sie sich ihr näherten. Kaum waren sie vorbei, erlosch das Flackern. Tatiana ging noch einmal ein Stück zurück, doch die Lampe blieb dunkel. Ebenfalls, als Ramirer mit dem Fuß heftig gegen den Masten stieß. Jetzt war er überzeugt, daß es keinen Wackelkontakt gab.

Schließlich tauchte das Windrad auf, Ramirer und Tatiana blieben stehen und schauten hinauf. Der Propeller drehte sich, die Flügel waren deutlich zu erkennen. Doch deren Spitzen erschienen bei bestimmten Positionen, als würden sie sich ins Nichts auflösen.

Auf einmal bemerkten sie, daß sich das bis dahin als stillstehend erscheinende Wasser doch langsam bewegte. Was Ramirer, da er seine Brille nicht mithatte, zuerst für einen niedrigen Wasserstand und damit für ein von Steinen durchsetztes morastiges Ufer hielt, entpuppte sich, so Tatiana, als eine von hellen Schaumflecken, aber auch Plastik- und Holzabfall bedeckte Wasseroberfläche. Je weiter sie flußabwärts gingen und je näher sie zur Schleuse kamen, desto mehr Bewegung bemerkten sie: eine ganz sachte Gegenbewegung, von der Schleuse weg gegen den Strom.

Ramirer konnte immer nur betonen, wie wunderbar es für ihn sei, mit Tatiana jetzt an diesem Ufer zu sein und diese noch nie gesehene Stromaufwärtsbewegung von Schaum und Abfall zu betrachten. Und auf einmal entstand dieses wunderbare Gefühl, daß ihnen der Boden unter den Füßen weggezogen wurde oder der Boden sie unaufhörlich mitnahm: dort, am Betonrand, während sie das Treibgut fixierten. Der Boden unter ihnen schien sich tatsächlich zu bewegen, genau in der Geschwindigkeit des Zurückflutens, gleichmäßig langsam, in die entgegengesetzte Richtung. Als würden sie am Wasser vorbeitreiben, nicht das Wasser an ihnen. Ramirer, mit aufsteigender Hitze zu Übertreibungen neigend, sagte: Wir schweben bei völligem Stillstand!

(20. Jänner 2007)

Trackback URL:
https://earichter.twoday.net/stories/t-18-tatiana/modTrackback

User Status

Du bist nicht angemeldet.

Free Text (1)

Dieses Weblog wird hier archiviert.

Archiv (ab 1967)

Lyrikbände:

Der zarte Leib

Friede den Männern

Das leere Kuvert

Eurotunnel

Obachter

Schreibzimmer

Romane:

Die Berliner Entscheidung

Originalverpackt oder mit Widmung über e.a.richter(ett)gmx(punktt)at erhältlich.

„...Dies ist der Versuch eines komprimierten Familienromans, zugleich ein Reisebericht, der an einen Ort führt, wo die Kriegsschäden an den Menschen und deren Behausungen noch unverhüllt sichtbar sind. Lena und Stefan, von den gegensätzlichen Seiten der Geschichte kommend, unternehmen, sich zwischen Überlebenden und deren Nachkommen bewegend, einen Versöhnungsversuch...“ (Klappentext)

Fliege. Roman eines Augenblicks

Aktuelle Beiträge

0126-1b A KIND OF DEPARTURE
the lady of the house speech-impaired since an incomprehensible...
e.a.richter - 2015-12-30 07:09
0126-1a AUCH EIN ABGANG
die gnädige frau sprachgestört wohnt sie seit einem...
e.a.richter - 2015-12-26 03:43
0107a - THE TEACHERS
the teachers leave the school the prettiest teacher...
e.a.richter - 2015-12-23 21:27
DT-001 FETISCH
(YVONNE) ihre weiße Bluse steif, ein Fetisch, der...
e.a.richter - 2015-12-21 12:12
DZL-18 DAS BETT
das Bett, das alles verraten wollte und nichts verriet:...
e.a.richter - 2015-10-07 04:22
DZL-17 PUPPI
was zu sehen ist, in einzelne Stücke zerlegen; alle...
e.a.richter - 2015-06-02 08:44
DZL-01 WIR GLAUBTEN AN...
wir glaubten an das Blut. Dieses Wir ist mit Vorsicht...
e.a.richter - 2015-05-07 13:59
DZL-02 MEIN PATTEX
mein Zauberer hieß nicht Pattex, nicht Expatt. Er lebte...
e.a.richter - 2015-05-07 13:58
DZL-03 DER ZARTE LEIB
Zartleibigkeit wird vermißt, auch intensive Zartlebigkeit....
e.a.richter - 2015-05-07 13:56
DZL-04 - ZU MEINER ZEIT
zu meiner Zeit war gar keine Zeit. Die Zeit hatte sich...
e.a.richter - 2015-05-07 13:55
DZL-06 IN DIE HÖHE SINKEN
schwierig zu lesen: Er begriff seine Geschichte. Blatt...
e.a.richter - 2015-05-07 13:53
DZL-07 TISCHLERPLATTE
mein Vater, Tischler, hatte keine Tischlerplatte, er...
e.a.richter - 2015-05-07 13:52
DZL-08 GOLD, GLANZ, HEITERKEIT
sie sagt, ich bin älter als mein Vater, als er zu...
e.a.richter - 2015-05-07 13:51
DZL-09 WIR GLAUBTEN AN...
wir glaubten an das Blut. Dieses Wir ist mit Vorsicht...
e.a.richter - 2015-05-07 13:51
DZL-10 BRAUTMASCHINE
ein Mann braucht nur eine Wand und eine Braut. Er braucht...
e.a.richter - 2015-05-07 13:50
DZL-11 SCHWIMMERIN
wenn sich das Tor geöffnet hat, fährt allen in ihren...
e.a.richter - 2015-05-07 13:50
DZL-12 FRESSEN UND WUCHERN
Gedichte zu fressen ist nicht meine Sache. Ich lese...
e.a.richter - 2015-05-07 13:49
DZL-13 KONTROLLE VERLIEREN
Kontrolle verlieren, im Nebenraum, wo alles aufgetürmt...
e.a.richter - 2015-05-07 13:49
DZL-14 MUNDSCHUTZ FÜR...
es begann mit strahlenden Augen, auf einer Schnitzerei...
e.a.richter - 2015-05-07 13:48
DZL-15 JUNGE FRAUEN...
dem kleinen Mann macht die Situation einen Gefallen: zwei...
e.a.richter - 2015-05-07 13:48

Free Text (2)

Free Text (3)

Archiv

Juli 2013
Mo
Di
Mi
Do
Fr
Sa
So
 1 
 3 
 4 
 6 
 7 
 9 
11
13
15
16
17
19
21
23
24
25
26
27
28
29
30
31
 
 
 
 
 

Suche

 

Status

Online seit 4841 Tagen
Zuletzt aktualisiert: 2016-01-06 11:08

Credits


A Roma etc.
Das leere Kuvert
Der zarte Leib
Detonation und Idylle
Die Berliner Entscheidung
Erste Instanz
Eurotunnel
Fliege (Notizen)
Friede den Männern
Jetzt
Licht, Schatten
Namen
Obachter
Pessimismus & Erfahrung
Schreibzimmer
Stummfilmzeit
... weitere
Profil
Abmelden
Weblog abonnieren