T-21 TATIANA

Es gab noch einige andere Papiere, die nichts mit Tatiana zu tun hatten. Ein sie betreffendes Blatt stach mir ins Auge, weil es zeigte, daß der Inhalt der Mappe mindestens ein Jahr alt sein mußte. Fälschlicherweise hatte ich angenommen, alles, was ich gefunden hatte, stamme aus dem vergangenen Dezember.

„2. März: Keine Täuschung T.s Mail, in dem sie von Schwierigkeiten berichtet, die man ihr bei der Ausreise macht. Muß in Moskau bleiben.

15. März: Noch immer bei ihrer Mutter, angeblich. Gibt keine Telefonnummer an.

30. März: Sie habe keine Kraft mehr, schreibt T..

19. April: Fundstück! Eine Tatiana auf der Seite von Dating World (Aussehen und alle Angaben zur Person passen genau auf Tatiana Kornienko) schreibt folgendes:

„Hallo, schön, dich in der weiten Welt des Internets anzutreffen. Die Suche hier kann zwar so lang und mühsam sein wie die Arbeit eines Goldgräbers. Doch warum sollte ich es nicht probieren, denn die Chancen stehen ja mindestens eins zu einer Million? Du siehst mich hier auf den beiden Fotos, einmal nur mein verträumt lächelndes Gesicht, dann mich in meinem schönsten Kleid, obwohl ich normalerweise Hosen trage.

Du merkst schon: Ich bin eine Russin, die nur scheinbar den eingefahrenen Klischees entspricht. Ich habe etwas von Anna Karenina in mir (genauer: von deren Darstellerin Sophie Marceau, auch wenn ich 17 Jahre jünger bin), aber auch von Anna Netrebko, ohne daß ich eine vergleichbare Gesangsausbildung vorzuweisen hätte. Ja, ich kann spielen und singen; aber - viel wichtiger - ich kenne sowohl das russische Unternehmensrecht als auch die Gefahren häuslicher Gewalt.

Du liest hier diesen Text über mich, weil ich annehme, daß wir ähnliche oder gar die gleichen Interessen und Bedürfnisse haben, nämlich einen zuverlässigen, familienorientierten, liebevollen und gebildeten Partner zu finden. Es gibt für jeden eine Chance, auch für dich und mich. Aber alles hängt davon ab, wie wir sie nützen, und zwar im richtigen Augenblick. Vielleicht ist er jetzt gekommen. Meine Wünsche sind einfach: ich will glücklich sein und jemanden glücklich machen, der mich und meine Tochter liebt...“

Sollte ich Ramirer jetzt weiter im Blickfeld von Vermutungen behalten? Sollte ich ihn tatsächlich verfolgen? Sollte alles Weitere ein Ramirer-Projekt werden, indem ich mich ihm auf die Fersen hefte und ihn damit in den nächsten Wochen, vielleicht sogar Monaten in den Mittelpunkt stelle? Siegt jetzt der Wunsch, dadurch von mir abzulenken, diesem so löchrigen Ich, das immer wieder an Flüge in ferne Städte denken muß, etwa nach Tokio, Hongkong oder Wladiwostok?

(25. Jänner 2007)

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„...Dies ist der Versuch eines komprimierten Familienromans, zugleich ein Reisebericht, der an einen Ort führt, wo die Kriegsschäden an den Menschen und deren Behausungen noch unverhüllt sichtbar sind. Lena und Stefan, von den gegensätzlichen Seiten der Geschichte kommend, unternehmen, sich zwischen Überlebenden und deren Nachkommen bewegend, einen Versöhnungsversuch...“ (Klappentext)

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