Zahl und Gesicht

Sonntag, 13. Februar 2011

0012 - DIE SCHÜLER

Die Schüler, blaß, auf die Ferien wartend, unsicher lächelnd,
erbost über verwechselte Hände, fallen übereinander her
und stopfen den Rest in die Schultaschen. Puppeninneres
entrieselt diesen zuhaus: sie werfen sich jubelnd darauf
und fliegen, Stäubchen ein jeder, fliegen unglaublich
schnell, lachend über das Los ihrer Väter (die Väter sind
jünger als sie) schnell in den Schoß der Lehrerin, der nun
nur Schürze, naß vom Weinen, behende über die Tafel wischt,
auslöscht das letzte anstößige Zeichen. Im Dunkel sitzend, atemlos,
fast glücklich, warten sie auf ihren Schmetterlingssommer.

(Juni 1967)

Samstag, 12. Februar 2011

0011 - AM STRAND

Eine mutwillige Brise
empört die lächelnde Fläche:
Lichtstreifen, schnell ermüdend,
marschieren über den Sandhang.

Unken echoen. Kinder schrein
aus rot- und gelbgeschwollenen Rümpfen.
Entblößt, die Mutter suhlen sich gleichgültig
in ihrer braunen glitzernden Schönheit.

Schwarz, bald ist mein Kopf
vollgesoffen
mit glührotem Metall;
stürzt jäh ab

in die grüne schwebende Masse,
die weiß und begehrlich aufspritzt:
Zischend schießt nun ein Boot
hin zu den Kindern als letzte Rettung.

(Juni 1967)

Freitag, 11. Februar 2011

0010 -DIE WIRTIN

1

Hinter der zugefallenen Tür
mag ein zugefrorener Teich sein,
darauf etwas Spitzes, tanzend.

Die Wirtin kehrt bald zurück,
in den Augen grüne Scherben,
im Mund den Aufprall von Flaschen.

Das Geld, das sie reicht, trieft
von verborgenen, tiefen Schnitten.
Ihre blaue Brust ist höher geworden.

Die Rehböcke ihrer Träume
erscheinen plötzlich, fragend;
den Arbeitern glaubt sie nichts.

2

Das aufgehäufte Fleisch,
das ihr hier seht,
wird niemals meins sein!
Dieses kleine Mädchen
ein fahles Stück Mutterhaut
mit roten, wässrigen Augen:
zu schwer für mein Leben.
Ich schüttle die Flaschen,
bin mit dem Schillern und Platzen
von Blasen zufrieden, mit dem,
was mir entgleitend zerschellt.
Die Splitter mögen euch zeigen,
wie Blut mich treibt und beweibt.
Das Mädchen trollt sich,
verschwindet im Fett einer Mutter.
Ich bleibe schlank, gläsern!
Ich hüpfe über Nacht und Au,
steige und schwebe und platze.

(Juni 1967)

Donnerstag, 10. Februar 2011

0009 - BEI ZWENTENDORF

(für Franz Haderer)

1 Die Au

Eine riesige Lunge, schwer atmend, ist hier die Au.
Eine Fabrik, unsichtbar, kauert im Osten,
bläst Zementstaub, allerfeinst, in die Luft:
er ist grau, weißgrau, und grau ist jeder Tag dieser Au.

Sie keucht, hüstelt unmerklich; ihre Brennesselstauden,
Erlen, Weiden, ihr Rohrgras, mannshoch, stehn bebend da,
würgend, unwiderstehlich der Brechreiz.

Das Knacken der dürren Äste unter den Schuhn
ist ein Husten, trocken, heimtückisch. Das ständige Rieseln
ein Alptraum verfestigten Lichts: das Licht

bleibt liegen, grau, lautlos, gefährlich lauernd.
In der Nacht wird die Lunge versteinert sein, weiß.


2 Die Schlange

Zu heiß für bloße Sohlen die Steine:
das Wasser schießt glücklich prustend
durch die zwölf Löcher des Wehrs.

Blickschnell, ein Strahl lappt sich empor,
dunkles S mit silbernem Schnörkel:
die Natter hat den Fisch zappelnd im Maul.

Ihr Schlängeln in Bernstein geschnitten,
es dauert; der silberne Blitz dauert.

Die Horizonte saugten ein Vakuum hier.
Kein Ort, keine Zeit: nur ich, im Schlangenbiss, lautlos.

(Juni 1967)

Dienstag, 8. Februar 2011

0008 - PRAG JÜDISCHER FRIEDHOF

(für Helena Krausova)

Der Regen ist Rabbi Löws Bart.
Einst, im Verlorenen Land, wurde mir wohl,
wenn er mich streifte. Seine Bauchrednerstimme
war ein viel größeres Wunder
als je ein Regenbogen. Rabbi, ich schlief
in deinem Bart, schmutziges Mädchen,
und träumte mich rein. Rabbi, du riefst mich
manchmal zu dir, und ich legte mein Ohr
an jene Wunde, rot und geheim,
mitten im Bart: da wurde mir wohl
im Trost deines Singsangs, Wiegen des Hauptes
in der eindeutigen Schrift deines Herzens.
Wie leicht – Rabbi, du lächelst -, wie schnell
hinter deinen Schultern die Welt verschwand:
die Mutter eine weggeworfene Puppe
der Vater kleiner als dieser Nagelmond.
Jetzt, diese Grabsteine sind kein Dach.
Ich gehe nackt im Regen, die Judenseelen
rissen mir alle Kleider vom Leib.
Ich gehe nackt über das Steinmeer.

(März 1967)

Montag, 7. Februar 2011

0007 - DIE AHNEN

Unter Blättern, feucht, geduckt,
hocken sie, wollüstigen Buckels,
glotzäugig, mit bärtiger, triefender Lippe,
hocken, horchen und haben Spaß
an Unfällen, Mißernten, Fehlgeburten.

Unter den Blättern glattgrün,
in Gläsern schlierig, auf Messern fett:
sie hocken und haben Spaß
an Verneinung, wispern von Gas
und läuten die Glocken zur Unzeit.

Lähmend fällt ihr Singsang
Gehenden in den Rücken,
Nackte erblinden vor Scham,
Schläfer zerdrückt der Daumen des Vaters.

Schnurrend, sie hocken dabei, fächeln
mit Zeitungen, Honigtöpfe die Herzen,
von Hohn und Verzweiflung umsessen,
aus Mündern Bälle aus rüdem Gestank.

(Jänner 1967)

Sonntag, 6. Februar 2011

0006 - FIEBER

Puls, heiß, Blasen, violett, aufplatzend
unter Augen, überreizt, grün flimmernd.
Geräuschlos spazieren Kinder,
Parapluis aus Papyrus, Putten
aus Gummi, lächerlich weich,
auf einer Milchstraße, plötzlich errötend.

Da unten die Erde, konvulsivisch
Zuckende, Schaum aus den Mündern.
Gelächter, aus Röhren, gepreßt.
Flaggen, Signale, wehende Hände.

Verwandlung: Franzosen, glänzend,
mit Schraubenmuttern im Cakewalk.
Ölgeruch, Grüße des Proletariats:
WIR erzeugt Unsterblichkeit,
WIR springt über Streiks, Stoppzeichen, Kondome.

Parolen, mit Echos, millionenfach,
jagen Melancholie in die Luft.
Eine Staubwolke setzt sich, Hügel, Berge,
aus Kinderpuder, versöhnlich, im Abend-
sonnenschein, schon im Schlaf.

(Jänner 1967)

Samstag, 5. Februar 2011

0005 - ERINNERUNGSBAD

Mit roten Mängeln behaftet,
abbreviaturenhaft, grausam fast,
Gesichtsteile, tanzend,
Erinnerungsbad.
Nichts Schaumgekröntes, nur
Anatomiebuchseiten, verlebendigt,
die sich vergeblich
in den Seitenstraßen,
im Kornfeld verstecken wollen.
Plötzliche Einfälle,
Maschinengewehrgarben
haben das Dunkel gelichtet.

(Jänner 1967)

Freitag, 4. Februar 2011

0004 - DIE MASKE

Er wartete nicht, bis mein Tanz zu End war.
Er hob meine Maske ab und erschrak.
Ich sah meine Sommersprossen auf seine Augen
sich legen; darin kreisen, bis ihr Licht erlosch.

Mein Tanz ist zu End, weil alles um mich herum brennt;
weil Haare scharf rascheln, Füße wehn, die Dinge,
an die ich dauernd stoß, bis ins Herz kalt sind.
Ich seh keine Sonne, nur Schnee.

Trauert, Eltern, schön war die Zeit hier mit euch,
mein letzter Sommer, mein Vogel, mein Leben, mein Lied –
ich schluckte es mit den Pillen, und alles Eckige war
blitzschnell rund, alles Kalte warm und ganz nah.

(28.1.1967)

(siehe KURIER, 27.1.1967, S. 7)

Donnerstag, 3. Februar 2011

0003 - EZRA POUND

In meinem meerroten Bart
fängt sich der Wind,
daß es knistert und knirscht,
als stieße der Kiel auf ein Riff.
Ein schwarzer Hahn kräht
im Meeresschaum.
Die Geister entzünden sich leicht
in solchen Stunden,
ein Napf steht bereit
fürs Tropfwachs der Kerzen.
Wenn ihr glaubt, der Wind
ist ein Feind des Feuers,
dann seht meinen Bart!
Daß Flammen züngeln,
macht ihn nur froh.
Und mein Gesicht
leuchtet im Widerschein.

(Jänner 1967)

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