DB-015 (5) (Stefan schließt die Augen)
Es kommt jedoch anders: Er muß Michel anstarren, wie er in der Küche seiner weitläufigen Villa ein Kaffeehäferl hält, das letzte Blut aus einem Häschen pressend. Ausbluten, sagt Stefan, er hebt seinen Kopf, weil ein Schweißer gestolpert ist und 30 Stockwerke hinunterfällt, Ersatzopfer für Jacques, und Stefans Schwanz sticht unerwartet steil in meine Arschfurche. Stefan streicht mir über den Bauch und nähert seinen Atem meinem Ohr.
Wie er als Bub seinem Großvater beim Fellabziehen geholfen habe, wie ihm vorm bläulich-rosafarbenen Fleisch des Hasen, seinem warm-süßlichen Geruch fast übel geworden wäre: Daran denke er jetzt, wo vor seinen Augen der Kapitalismus den Schweißer bei lebendigem Leib gehäutet habe. Der habe seinem Leben bewußt ein Ende gesetzt: fünf Sekunden Sturz, Funkenregen, kurz gleißendes Licht und das Knattern der Stromstöße. Oben sei er Handlanger gewesen, unten der leblose Sieger, sofort durch die gierig Nachdrängenden hinter heruntergeklappten Schweißerbrillen ersetzt.
Ich kann jetzt schwer die Wirklichkeitsschichten auseinanderhalten: vor mir das schwarz-weiße Geflimmer, wo ein dunkler, flackernder Fleck einem anderen ebensolchen Fleck den Befehl erteilt, endlich mit ihr (also der Cardinale) ins Bett zu gehen; hinter mir die zunehmend feuchte Hitze, die sich auf meine schlaffen Glieder, meinen auf- und abwogenden Willen legt. Dort vorn wehrt sich einer mit der Attitüde der Hilflosigkeit, die nach Hilfe schreit, gleichzeitig den Ansatz jeglicher Hilfe erstickt. Hinter mir saugt einer meine Nackenhaare in seinen Mund, kaut sie.
Soll ich meine Augen verschließen vor den Ereignissen vor mir und mich blitzschnell umdrehen? Bin ich dann dem hinter mir Objekt seiner Phantasien, die ihn immer eindeutiger das einzige nächtliche Ziel ansteuern lassen, ohne daß ich mir vorher annähernd Klarheit über meine Augenblicksbedürfnisse verschaffen konnte? Wird der hinter mir, ohne Widerstand in mich eindringend, mich als noch immer unverhüllt Traurige, unverhüllt Unentschiedene ertappen?
Du weigerst dich, diese Fragen jetzt zu beantworten, und starrst fasziniert auf eine Dame in teuren Fetzen, eine goldkalt Berechnende, eine sich im Anbieten Zurückziehende, eine im Zurückweichen Aufklaffende. Du siehst die Cardinale unter einem klebrigen Zuckerguß. Du siehst einen Baulöwen, der zugleich Abgeordneter ist, und eine französische Schlagzeile, die Stefan mit schwacher Stimme eindeutscht.
Endlich siehst du alle drei in einem Raum. Und die Cardinale hebt ihre Pistole, richtet sie auf Michel, der langsam auf sie zugeht. Du siehst, wie sie die Pistole plötzlich gegen sich kehrt, mit verzerrtem Gesicht etwas Furchtbares schreiend. Du siehst den jetzt stehenden Michel, der von einem Geräusch abgelenkt wird, das von links hinten kommt, wo der Umriß der Gestalt von Jacques zu erkennen ist. Und heraus schiebt sich der Umriß einer Waffe, aus deren Mündung mehrere Schüsse zischen. Du siehst, daß die Cardinale an die Wand geklatscht wird, daß sie zu Boden sackt. Und Michel klopft Jacques bewundernd auf die Schulter. Und Jacques erhebt sich und küßt Michel auf den Mund. Und beide beginnen sich zu verrenken, und aus ihren Verrenkungen wächst ein grotesker Tanz, ein Gezucke, lustloser Jubel, behinderter Triumph. Du siehst, wie sie sich auf uns zubewegen, in Hüfthöhe unscharf werden. Und der Mann hinter mir atmet, als wäre er bereits eingeschlafen.
(Die Berliner Entscheidung, Residenz Verlag, 1984)