Freitag, 2. November 2012

DB-015 (5) (Stefan schließt die Augen)

Stefan schließt die Augen und sagt, er warte jetzt auf einen Schuß, auf mehrere Schüsse. Gleich danach entziehe ich ihm meine Füße und höre ihn mögliche Motivationen aufzählen. Oder, schließt er seine Überlegungen, er erschießt ihn, weil er ein Kryptokommunist ist.

Es kommt jedoch anders: Er muß Michel anstarren, wie er in der Küche seiner weitläufigen Villa ein Kaffeehäferl hält, das letzte Blut aus einem Häschen pressend. Ausbluten, sagt Stefan, er hebt seinen Kopf, weil ein Schweißer gestolpert ist und 30 Stockwerke hinunterfällt, Ersatzopfer für Jacques, und Stefans Schwanz sticht unerwartet steil in meine Arschfurche. Stefan streicht mir über den Bauch und nähert seinen Atem meinem Ohr.

Wie er als Bub seinem Großvater beim Fellabziehen geholfen habe, wie ihm vorm bläulich-rosafarbenen Fleisch des Hasen, seinem warm-süßlichen Geruch fast übel geworden wäre: Daran denke er jetzt, wo vor seinen Augen der Kapitalismus den Schweißer bei lebendigem Leib gehäutet habe. Der habe seinem Leben bewußt ein Ende gesetzt: fünf Sekunden Sturz, Funkenregen, kurz gleißendes Licht und das Knattern der Stromstöße. Oben sei er Handlanger gewesen, unten der leblose Sieger, sofort durch die gierig Nachdrängenden hinter heruntergeklappten Schweißerbrillen ersetzt.

Ich kann jetzt schwer die Wirklichkeitsschichten auseinanderhalten: vor mir das schwarz-weiße Geflimmer, wo ein dunkler, flackernder Fleck einem anderen ebensolchen Fleck den Befehl erteilt, endlich mit ihr (also der Cardinale) ins Bett zu gehen; hinter mir die zunehmend feuchte Hitze, die sich auf meine schlaffen Glieder, meinen auf- und abwogenden Willen legt. Dort vorn wehrt sich einer mit der Attitüde der Hilflosigkeit, die nach Hilfe schreit, gleichzeitig den Ansatz jeglicher Hilfe erstickt. Hinter mir saugt einer meine Nackenhaare in seinen Mund, kaut sie.

Soll ich meine Augen verschließen vor den Ereignissen vor mir und mich blitzschnell umdrehen? Bin ich dann dem hinter mir Objekt seiner Phantasien, die ihn immer eindeutiger das einzige nächtliche Ziel ansteuern lassen, ohne daß ich mir vorher annähernd Klarheit über meine Augenblicksbedürfnisse verschaffen konnte? Wird der hinter mir, ohne Widerstand in mich eindringend, mich als noch immer unverhüllt Traurige, unverhüllt Unentschiedene ertappen?

Du weigerst dich, diese Fragen jetzt zu beantworten, und starrst fasziniert auf eine Dame in teuren Fetzen, eine goldkalt Berechnende, eine sich im Anbieten Zurückziehende, eine im Zurückweichen Aufklaffende. Du siehst die Cardinale unter einem klebrigen Zuckerguß. Du siehst einen Baulöwen, der zugleich Abgeordneter ist, und eine französische Schlagzeile, die Stefan mit schwacher Stimme eindeutscht.

Endlich siehst du alle drei in einem Raum. Und die Cardinale hebt ihre Pistole, richtet sie auf Michel, der langsam auf sie zugeht. Du siehst, wie sie die Pistole plötzlich gegen sich kehrt, mit verzerrtem Gesicht etwas Furchtbares schreiend. Du siehst den jetzt stehenden Michel, der von einem Geräusch abgelenkt wird, das von links hinten kommt, wo der Umriß der Gestalt von Jacques zu erkennen ist. Und heraus schiebt sich der Umriß einer Waffe, aus deren Mündung mehrere Schüsse zischen. Du siehst, daß die Cardinale an die Wand geklatscht wird, daß sie zu Boden sackt. Und Michel klopft Jacques bewundernd auf die Schulter. Und Jacques erhebt sich und küßt Michel auf den Mund. Und beide beginnen sich zu verrenken, und aus ihren Verrenkungen wächst ein grotesker Tanz, ein Gezucke, lustloser Jubel, behinderter Triumph. Du siehst, wie sie sich auf uns zubewegen, in Hüfthöhe unscharf werden. Und der Mann hinter mir atmet, als wäre er bereits eingeschlafen.

(Die Berliner Entscheidung, Residenz Verlag, 1984)

User Status

Du bist nicht angemeldet.

Free Text (1)

Dieses Weblog wird hier archiviert.

Archiv (ab 1967)

Lyrikbände:

Der zarte Leib

Friede den Männern

Das leere Kuvert

Eurotunnel

Obachter

Schreibzimmer

Romane:

Die Berliner Entscheidung

Originalverpackt oder mit Widmung über e.a.richter(ett)gmx(punktt)at erhältlich.

„...Dies ist der Versuch eines komprimierten Familienromans, zugleich ein Reisebericht, der an einen Ort führt, wo die Kriegsschäden an den Menschen und deren Behausungen noch unverhüllt sichtbar sind. Lena und Stefan, von den gegensätzlichen Seiten der Geschichte kommend, unternehmen, sich zwischen Überlebenden und deren Nachkommen bewegend, einen Versöhnungsversuch...“ (Klappentext)

Fliege. Roman eines Augenblicks

Aktuelle Beiträge

0126-1b A KIND OF DEPARTURE
the lady of the house speech-impaired since an incomprehensible...
e.a.richter - 2015-12-30 07:09
0126-1a AUCH EIN ABGANG
die gnädige frau sprachgestört wohnt sie seit einem...
e.a.richter - 2015-12-26 03:43
0107a - THE TEACHERS
the teachers leave the school the prettiest teacher...
e.a.richter - 2015-12-23 21:27
DT-001 FETISCH
(YVONNE) ihre weiße Bluse steif, ein Fetisch, der...
e.a.richter - 2015-12-21 12:12
DZL-18 DAS BETT
das Bett, das alles verraten wollte und nichts verriet:...
e.a.richter - 2015-10-07 04:22
DZL-17 PUPPI
was zu sehen ist, in einzelne Stücke zerlegen; alle...
e.a.richter - 2015-06-02 08:44
DZL-01 WIR GLAUBTEN AN...
wir glaubten an das Blut. Dieses Wir ist mit Vorsicht...
e.a.richter - 2015-05-07 13:59
DZL-02 MEIN PATTEX
mein Zauberer hieß nicht Pattex, nicht Expatt. Er lebte...
e.a.richter - 2015-05-07 13:58
DZL-03 DER ZARTE LEIB
Zartleibigkeit wird vermißt, auch intensive Zartlebigkeit....
e.a.richter - 2015-05-07 13:56
DZL-04 - ZU MEINER ZEIT
zu meiner Zeit war gar keine Zeit. Die Zeit hatte sich...
e.a.richter - 2015-05-07 13:55
DZL-06 IN DIE HÖHE SINKEN
schwierig zu lesen: Er begriff seine Geschichte. Blatt...
e.a.richter - 2015-05-07 13:53
DZL-07 TISCHLERPLATTE
mein Vater, Tischler, hatte keine Tischlerplatte, er...
e.a.richter - 2015-05-07 13:52
DZL-08 GOLD, GLANZ, HEITERKEIT
sie sagt, ich bin älter als mein Vater, als er zu...
e.a.richter - 2015-05-07 13:51
DZL-09 WIR GLAUBTEN AN...
wir glaubten an das Blut. Dieses Wir ist mit Vorsicht...
e.a.richter - 2015-05-07 13:51
DZL-10 BRAUTMASCHINE
ein Mann braucht nur eine Wand und eine Braut. Er braucht...
e.a.richter - 2015-05-07 13:50
DZL-11 SCHWIMMERIN
wenn sich das Tor geöffnet hat, fährt allen in ihren...
e.a.richter - 2015-05-07 13:50
DZL-12 FRESSEN UND WUCHERN
Gedichte zu fressen ist nicht meine Sache. Ich lese...
e.a.richter - 2015-05-07 13:49
DZL-13 KONTROLLE VERLIEREN
Kontrolle verlieren, im Nebenraum, wo alles aufgetürmt...
e.a.richter - 2015-05-07 13:49
DZL-14 MUNDSCHUTZ FÜR...
es begann mit strahlenden Augen, auf einer Schnitzerei...
e.a.richter - 2015-05-07 13:48
DZL-15 JUNGE FRAUEN...
dem kleinen Mann macht die Situation einen Gefallen: zwei...
e.a.richter - 2015-05-07 13:48

Free Text (2)

Free Text (3)

Archiv

November 2012
Mo
Di
Mi
Do
Fr
Sa
So
 
 
 
 5 
15
21
23
25
 
 
 

Suche

 

Status

Online seit 5057 Tagen
Zuletzt aktualisiert: 2016-01-06 11:08

Credits


A Roma etc.
Das leere Kuvert
Der zarte Leib
Detonation und Idylle
Die Berliner Entscheidung
Erste Instanz
Eurotunnel
Fliege (Notizen)
Friede den Männern
Jetzt
Licht, Schatten
Namen
Obachter
Pessimismus & Erfahrung
Schreibzimmer
Stummfilmzeit
... weitere
Profil
Abmelden
Weblog abonnieren