Montag, 19. November 2012

DB-029 12 (Die beiden Kioske im Bahnhof Karlshorst)

12

Die beiden Kioske im Bahnhof Karlshorst sind geschlossen, obwohl sie, da auf dem Kärtchen im Fenster Nachmittag steht, jetzt am Vormittag geöffnet sein müßten. Um das zu klären, wendet sich Stefan an die Stationsvorsteherin, die aber, ohne seine Frage zu beachten, zur Bahnsteigkante tritt und in ihr Funkgerät spricht, worauf sich die beiden Züge, die auf die Abfertigung gewartet haben, zugleich in Bewegung setzen.

Als die Frau die Situation erfaßt, schreit sie: Karlshorst halt!, und die beiden Züge werden gebremst.Darauf gibt sie zuerst dem Zug in Richtung Friedrichstraße die Ausfahrt frei, dann dem Gegenzug. Erst jetzt dreht sie sich kurz zu Stefan, zuckt mit den Achseln und will weg, weshalb Stefan mit einer weiteren Frage nachstößt und damit den Hinweis auf die Post gegenüber dem Bahnhof erpreßt.

Dort ist jedoch kein Zeitungsstand. Ein hilfsbereiter Beamter rät Stefan, er solle einfach die Dunckerstraße raufgehen. Weil ein 17er gerade vor ihm hält, als er die Straße überqueren will, steigt er ein, verläßt den Waggon aber bei der nächsten Haltestelle, da ihn ein junger Uniformierter mit einem Mikrophon in der Hand daran erinnert, daß er keinen Fahrschein gelöst hat.

Wieder auf der Dunckerstraße, gerät er auch bald an einen Kiosk, wo man aber weder ein Neues Deutschland noch die letzte Ausgabe der Weltbühne oder des Sonntag mehr bereit hat. Verärgert erinnert sich Stefan seines eigentlichen Auftrags: Er wollte ja Lebensmittel für die nächsten Tage besorgen, und der Hunger meldet sich schon.

Er ist bereits das zweite Mal unterwegs. Vom ersten Einkaufsgang ist er mit leerem Netz zurückgekommen, nachdem ihm die Schlange der Wartenden vorm Geschäft die Fassung geraubt hat. Fürs Fressen stellt er sich nicht an, hat er Lenas Vorwürfen entgegengehalten, die ihn darauf zynisch gefragt hat, um wieviel höher er sich denn einschätze als die Bürger der DDR; wie viele Menschen denn das Maximum seien, damit er sich aufraffen könne, hier Milch, Brot, Butter, Käse und Marmelade zu besorgen?

Ludwig hat am Telefon von einem großen Laden in der Redlichstraße gesprochen. Aber auch dort stehen die Leute über die Stufen herunter, während drinnen fast kein Käufer zu sehen ist. Stefan betrachtet durch die Fensterscheiben hindurch skeptisch die Regale. Sie erscheinen ihm trostlos, mit trostlosen Waren belegt, weshalb in ihm ein trostloser Zorn entsteht, der ihn das umgetauschte Westgeld der ostdeutschen Zirkulation vorenthalten läßt.

So wird der Hunger wütend in Gehen umgesetzt, was keine Lösung bringen kann. Daher gibt es keinen Ausweg aus Trotz, Verweigerung und Ekel, und Stefan dreht sich hilflos im Kreis auf der Suche nach einem Geschäft, wo das Einkaufen von Lebensmitteln so nebensächlich erscheint wie zuhause.

Stefan sieht seinen Schuhen zu, schwarzen, scheinbar unförmigen Schuhen, die den Zehen viel Raum geben, nützlichen Spielraum, sieht, wie sie - einmal rechts, einmal links - nach vorn zucken, wie der Straßenkot, vermischt mit schmutzigem Schnee, auf beiden Seiten der Schuhe emporquillt, wie er haften bleibt, antrocknet, wie Kotreste beim Gehen weggeschleudert werden, wie die Schnürriemen fliegen, wie die schwarzen Hosenbeine sich blähen und erschlaffen, wie die Haare seiner Waden sich an den Hosenbeinen reiben; er sieht seine nackten Waden unter den Hosenbeinen in einem gleichmäßigen Rhythmus sich anspannen, heben und senken, die Knie emporschnellen, sich knicken und straffen - er geht, als wäre er ein Läufer, keuchend, mit weitausholenden Armbewegungen, und steht auf einmal vor Lena, mit einem während des Gehens hin und her gewälzten Kompromißvorschlag, den sie zu akzeptieren hat: Er will mit ihr essen gehen, in irgendein Lokal, und ihr Hunger treibt sie neben ihm her, aber sie läßt ihn nicht an sich heran, verkneift sich auch nicht Sätze, in denen lächerliche Borniertheit, Kontakt mit dem Volk, ach du edler Mensch vorkommen.

Stefan konzentriert sich jetzt auf seinen Magen, in dem es gräbt, rumort, den er jetzt während des Schreitens, währenddessen ihm ein kalter Wind die Haare aus der Stirn bläst, während er die weißen, kalten Hände warmzureiben versucht, während er sich im Hintergrund mehr Wärme wünscht, Saunawärme, menschliche Wärme, nicht diesen kalten Blick Lenas, diese kalten Schultern Lenas, unter ihrer schwarzen Pelzjacke verborgen - mit vorgestellten Wörtern will er ihn füllen, um sich vom Hunger, von seinem Zorn abzulenken.

(Die Berliner Entscheidung, Residenz Verlag, 1984)

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„...Dies ist der Versuch eines komprimierten Familienromans, zugleich ein Reisebericht, der an einen Ort führt, wo die Kriegsschäden an den Menschen und deren Behausungen noch unverhüllt sichtbar sind. Lena und Stefan, von den gegensätzlichen Seiten der Geschichte kommend, unternehmen, sich zwischen Überlebenden und deren Nachkommen bewegend, einen Versöhnungsversuch...“ (Klappentext)

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