Montag, 12. November 2012

DB-023 9 (Für dich, liebste Therapeutin)

9

Für dich, liebste Therapeutin, spreche ich jetzt aus (ohne daß es jemand hören kann), worum du mich immer gebeten hast: Ich bin Jüdin, und Julia ist meine jüdische Cousine und Oskar mein jüdischer Onkel, der vor dreizehn Jahren in Genf mein jüdischer Liebhaber gewesen ist. (Ein Satz, in dem dreimal das Wort jüdisch vorkommt, ist eine entsetzliche Prüfung, auch ohne Lauscher.) Natürlich müßte ich jetzt aufspringen, hinauslaufen in den Schneegarten und in die Schneenacht mein Bekenntnis zum Jüdisch-Sein hinausschreien.

Ich sehe, wie du den Kopf schüttelst. Hier hätte das wenig Sinn, ich weiß. Dir zuliebe versetze ich mich also nach Wien, um mich wie jetzt mitten in der Nacht hinauszuwagen auf den Gang des Mietshauses, im Schlafkleid, in eine Strickjacke gehüllt, um fröstelnd den roten Knopf zu drücken, bis das Fünf-Minuten-Licht aufflammt, und dann der Reihe nach alle möglichen Zeuginnen und Zeugen dieses Gewaltakts herauszuläuten: Zuerst die gleich nebenan wohnende achtzigjährige Frau Schüssel, die sorgsam ihr Alter verbirgt, damit ihr niemand gratulieren kann; die sehr liebevoll mit ihrer meist trächtigen Hündin umgeht, aber unflätig auf die jugoslawische Hausbesorgerin schimpft, wenn die Stiege nicht nach ihrem Geschmack gewaschen ist oder das Ganglicht zu früh erlischt; die in einem ständigen Kleinkrieg mit dem Hausherrn begriffen ist, um die oft recht großzügigen Fehler in der alljährlichen Betriebskostenabrechnung zu seinen Gunsten von den Mietern wiederum auf ihn zurückzuwälzen.

Daneben die kleine, rotgesichtige, kurzatmige Frau Gozzi mit ihrem noch kleineren, schwarzhaarigen, nie lächelnden Mann, der immer sehr früh am Morgen mit einer abgewetzten, braunen Aktentasche weggeht und meistens erst nach sechs zurückkehrt. Anschließend ihre etwas jüngere Schwägerin, die meist nur im Schlafmantel anzutreffen ist, bleich und dürr zum Klo huschend. Und am anderen Ende des Gangs der rundliche, verschlagen aussehende Rettungsfahrer, dessen wahre Familienverhältnisse niemand kennt: Es gehen zwei Frauen aus und ein, eine kräftige Schwarzhaarige mit Brille und einem wogenden Mutterbusen und eine mittelgroße Dünnere, oft in Lockenwicklern, immer in Hosen.

Und neben, vor und nach den Frauen laufen keuchend mehrere Kinder, mindestens drei: ein etwa zehnjähriger Bub, der immer Kohlen, Lebensmittel oder eines der drei ungefähr gleich alten Babys über die Stiegen schleppt; ein häufig ihn begleitendes, vielleicht zwei Jahre jüngeres Mädchen; und ein weiterer Bub im Alter von zirka fünf Jahren. Zwischen ihnen und dem gegenüber wohnenden, stets adrett angezogenen, jungen technischen Angestellten, zu dem einmal im Monat eine ältere Frau kommt, um die vier Hoffenster zu putzen und die Vorhänge zu waschen, gibt es keinen Kontakt.

Zu der aufgeregten, immer aggressiver, immer lauter werdenden Versammlung dieser Personen würde sich jetzt auch der pingelige Ingenieur aus dem ersten Stock hinzugesellen, hinter ihm seine meist jung aussehende Frau mit der verlegten Frisur, aufgestört, fast wirr blickend, die ihr Gatte auffordert, sofort zu verschwinden. Und die soeben die Stiegen heraufhastende blonde Fußpflegesalon-Besitzerin herrscht er in barschem Befehlston an, in die Arme eines ihrer meist bedeutend jüngeren Liebhaber zurückzukehren. Davon hält sie aber ihr Sohn, der mit seiner kalkweißen, leptosomen Frau direkt unterm Techniker haust, mit Drohungen gegen den Ingenieur ab, der daraufhin die Polizei holen will (eine Standarddrohung von ihm).

(Die Berliner Entscheidung, Residenz Verlag, 1984)

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