Donnerstag, 8. November 2012

DB-020 (7) (Ich weigere mich jetzt)

Ich weigere mich jetzt, den dummen Alltag, der da drüben lauert, zu akzeptieren. Er erscheint in Gestalt eines Mannes, der Stefan sein könnte, aber auch ein Einbrecher oder ein Vergewaltiger, einer, der aus dem Irrenhaus davongelaufen ist, oder ein Millionär auf der Flucht vor der Steuerfahndung. Zeig ich dann Interesse für den Millionär, erweist sich das als eine tückische Sinnestäuschung: Stefan grinst mich an, erwartet, daß ich die Beine sofort auseinandergebe (was natürlich nie der Fall war!), daß ich seinen immer sehr ausführlichen Klagen über seine mühsame Existenz als Gelegenheitsarbeiter und ewiger Dissertant, ohne ihn zu unterbrechen, mit mitfühlender Miene anhöre (was natürlich immer der Fall war!).

Auf einmal erinnere ich mich an meine rasenden Kopfschmerzen, an meine schmerzhafte Unentschiedenheit zwischen zwanghaftem Weitermachenwollen und gleichgültigem Fallenlassen. Aber was ist dieser mehr als einen Kopf größere, bei aller Vertrautheit so unvertraute, wieder einmal in einer faltigen, schwarzen Hose, in einem ausgebeulten, schwarzen Pullover steckende, die Ausdünstungen seiner Unzufriedenheit mit sich herumschleppende Mann gegen den von mir (seitdem ich Romane lese) so heftig herbeigewünschten Millionär, der zwar verheiratet ist, gerade deshalb aber imstande, die ganze Hitzigkeit meiner Werbemöglichkeiten herauszufordern?

Ich gebe vor, ein altes, vielräumiges Haus geerbt zu haben, selbst aber nicht über genug Geld zu einer entsprechend großzügigen Renovierung zu verfügen (ich lebe, wie du weißt, mit Stefan in einer unansehnlichen Eineinhalb-Zimmer-Wohnung). Ich gebe vor, im Besitz eines dreihundert Jahre alten Stundenbuchs zu sein, mit dem ich das Interesse des Millionärs auf meine Person lenken kann. Ich lasse mich in einem Korb mit Essen in sein Büro schmuggeln, entsteige diesem vor seinen entgeisterten Augen und beginne ungeniert ein Gespräch mit ihm.

Ich gebe vor, jetzt nichts über ihn zu wissen (er ist Epileptiker, hat in New York einen Filmstar als Frau, die er nie verlassen würde). Es genügt mir, daß ich seine Leibwächter austricksen konnte. Es genügt mir, bis zu seinem Leib hin vorgestoßen zu sein und ungehindert mit einer Einladung zu einem gemeinsamen Essen im besten Restaurant Londons den Salon verlassen zu haben.

Wer wie ich durchs Akademische Gymnasium gegangen ist, kann gegebenenfalls immer mit Latein und Griechisch aufwarten, mit einer Bildung glänzen, die selbst Millionären nicht nur als Marotte erscheint. Es gibt also auch eine helle Seite in meiner Vergangenheit, stelle ich erstaunt fest. Dahinter versteckt sich allerdings eine dunkle, leidvolle mit eigentümlich schillernden Flecken.

So sehe ich jetzt meinen Klavierlehrer, der mir, während ich gelangweilt und nicht sehr routiniert zum x-ten Mal den dritten Satz aus dem Italienischen Konzert von Bach wiederhole, vom weggestreckten Fuß den Schuh entfernt. Ich spiele, er liegt mir zu Füßen, ich spreize die Schenkel, die Uhr des Kirchturms hinter der Schule schlägt dreimal, das Auge des Schulwarts blitzt im Schlüsselloch der Klassenzimmertür, der Klavierlehrer saugt an meinen Zehen.

Ich gebe vor, den Millionär mit Zitaten antiker Schriftsteller beeindrucken zu können. Auf klassisch-humanistischem Boden begründe ich eine unmögliche Klassenliebschaft, aus der sogar eine Schwangerschaft wächst. Auf die Geburt des gemeinsamen Bastards muß dann allerdings der so heroische Verzicht der jungen Mutter die Anwesenheit des Zeugers zugunsten seiner fernen Geschäfts- und Ehetätigkeit folgen.

So endet (scheinbar) eine der Lieben, die von Natur aus unmöglich sind, im Melodrama. Der verbleibende Rest an Hoffnung auf einen guten Ausgang ist als Kunstgriff der mit allen Wassern gewaschenen Autorin zu deuten. Obwohl die Liebe nicht nur eine unerklärliche Macht ist, die die Betroffenen wie ein Wolf nachts überfällt und ins Unglück stürzt, sind es die widrigen Zeitumstände, die den Seelen unauslöschliche Zeichen einprägen und ein Entkommen aus den Verstrickungen nicht gestatten.

Stefan macht sich wieder bemerkbar, diesmal so deutlich, daß ich es hören muß. Ludwig, der Mann Julias, meiner zweiten Ost-Berliner Cousine, will uns in einer Viertelstunde abholen. Die Zeit bis dahin will Stefan noch nützen, um über Oskar zu sprechen.

Wenn die Vergangenheit in der Gegenwart nicht von selbst sichtbar werde, sagt er, dann müsse sie eben hervorgeholt werden. Er beugt sich mit seiner langsamen Penetranz über mich und versucht mein Lebensmaterial zu befingern. Es ist keine freundliche Teilnahme, sondern unverhohlene Neugier, weshalb ich mich, nur mit Mühe meinen Gleichmut bewahrend, weiteren Attacken entziehe, indem ich mich dusche und ankleide.

(Die Berliner Entscheidung, Residenz Verlag, 1984)

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„...Dies ist der Versuch eines komprimierten Familienromans, zugleich ein Reisebericht, der an einen Ort führt, wo die Kriegsschäden an den Menschen und deren Behausungen noch unverhüllt sichtbar sind. Lena und Stefan, von den gegensätzlichen Seiten der Geschichte kommend, unternehmen, sich zwischen Überlebenden und deren Nachkommen bewegend, einen Versöhnungsversuch...“ (Klappentext)

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