Dienstag, 13. November 2012

DB-024 (9) (Das Stimmengewirr)

Das Stimmengewirr hat nun auch den alleinstehenden Werkzeugmacher aus dem obersten Stock angelockt. Ehemals Nazi wie fast alle älteren Männer hier, sympathisiert er jetzt mit dem nationalen Teil der FPÖ, gibt vor, Mitglied trotz des "roten Drucks" in seiner Firma zu sein, und macht sich bei den alten Frauen im Haus dadurch beliebt, daß er am Wochenende alle anfallenden Arbeiten übernimmt: Er repariert Schlösser, streicht Türen, tauscht Fenster aus, montiert Kästchen und Leuchtstoffröhren trotz seines regelmäßigen Rausches.

Selbst er kann jetzt nicht verhindern, daß ich meinen Mund aufreiße, um sie mit meinem Geständnis zu konfrontieren, das keinen Beifall erwartet: Ich bin Jüdin, Tochter eines österreichischen Juden, der 1938 aus Österreich nach Belgien emigriert, dort von den Hitler-Schergen 1941 gefangengenommen worden und nach seiner Flucht aus einem französischen Anhaltelager dem Widerstand beigetreten ist, Wehrkraftzersetzung als vermeintlich elsässischer Übersetzer zu seinem gefährlichen Geschäft gemacht hat, immer nur durch dumme Zufälle und dreiste Lügen einer Verhaftung, Deportation und der Vergasung entkommen ist. Gerade als seine Nachkommin habe ich eine Lebensberechtigung.

Du siehst ihre verständnislosen Gesichter, ihre unglaublich bornierten Mienen, ihr wegwerfendes Achselzucken, du hörst ihr aufgestört-drohendes Murmeln, und du weißt (wie ich), wieviel es geschlagen hat: Verärgert taumeln sie in ihre Wohnungen zurück. Jeder hat sein Leid, jeder hat genug zu tragen an der Last, die sich im Lauf der Jahre angesammelt hat. Niemand kann helfen, niemand ist für den andern verantwortlich, niemand interessiert sich für die Folgen der Geschichte.

Du wirst es jetzt einsehen müssen: Das Resultat einer solchen Aufwallung wäre nur eine Steigerung meiner Angst ins Maßlose. Ich kann mein Trauma, meine Stigmatisierung durch eine solch einfache Handlung nicht auslöschen. Im Gegenteil: Ich könnte in meine Wohnung nicht mehr zurück, ich müßte mit meinen Habseligkeiten flüchten noch vor Anbruch des Morgens.

Neben mir Stefan. Im Schlaf sein glattes Gesicht, das mich beruhigt. Die langen, dunklen Wimpern auf den Backenknochen, der dunkel nachdrängende Bart, das Zittern seiner Nasenflügel, sein fast lautloser Atem. Seine hellblonde Strähne im sonst dunklen Haar, die zu seinem Ärger nicht zu bändigen ist.

Zum Einschlafpuls Genf. Sehr verwischt die konspirative Buchhandlung Léons, eines alten Freundes von Oskar, gleich neben dem Bahnhof in der Rue Rousseau. Deutlicher Oskars damalige Wohnung in einem Wohnblock am Stadtrand. Helle, kleine, neubauniedrige Räume, helle Möbel. Schmales Vorzimmer, rechts Regale, bis oben vollgepreßt mit Büchern. Von dort aus geht es links ins Schlafzimmer, das gerade noch Platz hat fürs Ehebett und einige Bücher und Zeitschriften auf dem Boden.

Dann die Türen zur Küche und zum Wohnzimmer, das durch einen großen Familienrundtisch aus schwarzbraunem Holz, durch die vier Lampen mit den rotleuchtenden Schirmen und durch das grüne Wuchern der Blattpflanzen vorm Fenster einen bleibenden Eindruck hinterläßt. Der folgende Raum gehört den beiden Töchtern, Beate und der zwei Jahre jüngeren Julia, die damals gerade als behutsam behandelte Rekonvaleszentin nach der Ausheilung ihrer Lungenentzündung Oskars ganze Zuwendung in Anspruch nimmt.

(Die Berliner Entscheidung, Residenz Verlag, 1984)

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„...Dies ist der Versuch eines komprimierten Familienromans, zugleich ein Reisebericht, der an einen Ort führt, wo die Kriegsschäden an den Menschen und deren Behausungen noch unverhüllt sichtbar sind. Lena und Stefan, von den gegensätzlichen Seiten der Geschichte kommend, unternehmen, sich zwischen Überlebenden und deren Nachkommen bewegend, einen Versöhnungsversuch...“ (Klappentext)

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