Sonntag, 18. November 2012

DB -028 (11) (Ich bin bereits beim Geschirrabwaschen)

Ich bin bereits beim Geschirrabwaschen, und Stefans Interesse für alle meine Liebschaften mit älteren Männern, und zwar der Reihe nach, wächst. Er kennt nur Einzelheiten, will die Zusammenhänge erfassen. Er würde mich aussaugen, ließe ich das zu, und wäre trotzdem unzufrieden. Er will mir unter die Haut, aber dort brennt die Vergangenheit, die viel frühere, sie brennt bei jeder unvorsichtigen Bewegung.

Die Attraktivität der älteren Männer fängt bei meinem Vater an und hört bei ihm auf. Hätte ich ein anderes Verhältnis zu meiner Mutter, zu meinem Bruder gehabt, wäre ich sicher nicht so einseitig geprägt. Mein Vater hat immer höchst liberal und großzügig getan (wahrscheinlich nur, um meine Mutter zu übertreffen), war jedoch in Wirklichkeit puritanisch, hatte kleinbürgerliche Ängste und Ziele.

Meine Eltern sind zwar häufig nackt in der Wohnung herumgelaufen, weshalb mir ihr Körper kein Geheimnis war; ihr Innenleben hielten sie mir aber krampfhaft verborgen. Oft hätte ich gerne gewußt, ob sie etwas für mich empfanden und was. Denn Zärtlichkeiten, absichtsvolle Umarmungen waren äußerst selten. Berührungen fanden meist nur auf Gesprächsebene statt, wo ich mich stets unterlegen fühlte, nur mit offenem Mund lauschen konnte, höchst selten einen argumentierenden Widerspruch wagte, was dann diese unbändigen, maßlosen Auftritte und Ausbrüche zur Folge hatte, scheinbaren Haß als Liebesersatz sozusagen, worauf ich mich selbst immer am meisten haßte.

Stefan insistiert auf dem Geheimnis der Älteren, sein Geheimnis als bedeutend Jüngerer unterschätzend. Ich will das nicht verstehen: das gelebte Leben, diese Furchen, diese Falten, diese sichtbare Vergangenheit, diese Last der Erfahrung, die scheinbar überwunden ist; dann diese Wärme, dieses Vertrauen, das langsam aufgebaut wird oder blitzartig da ist.

Ich habe nie gesagt: entweder jung oder alt. Ich habe immer nur meinen Gefühlen nachgegeben, meinen Sehnsüchten nach dem, was mein Vater in mir geweckt hat, aber selbst nicht erfüllen konnte. Damit ist das Thema erschöpft. Deshalb stelle ich eine Liste der Dinge zusammen, die Stefan einkaufen soll.

Was willst du, sage ich abschließend, ich hab mich völlig gesellschaftskonform, völlig unkritisch verhalten: je mehr Kerben das Gesicht eines Mannes aufweist, je mehr Blessuren und Plissees, je blasierter es ist, desto höher ist sein Rang: Sein Fleisch wird erst interessant, wenn es ihm locker von den Knochen hängt; zwar verliert er immer mehr Haare, doch kann er sich jetzt endlich die dezent elegante Kleidung leisten, die ihn strafft, nobel erscheinen läßt und aus der Masse der Arbeitskrüppel heraushebt. Ich hole Besen und Schaufel hinter einem Vorhang hervor und beginne aufzukehren.

Stefan mault, ist aber auch froh, hinauszukommen. Er will hier beides: mich entdecken, wiederentdecken und sich zugleich dem Äußeren, dem Augenschein aussetzen, um (wie er es nennt) seine atmosphärischen Gesellschaftsstudien voranzutreiben. Er sucht den anderen Zustand als Straßenstudent, ewiger Fotograf, der in jedes Detail so vernarrt ist, weil er glaubt, es könne ihm den Zugang zum verborgenen Allgemeinen ermöglichen.

(Die Berliner Entscheidung, Residenz Verlag, 1984)

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„...Dies ist der Versuch eines komprimierten Familienromans, zugleich ein Reisebericht, der an einen Ort führt, wo die Kriegsschäden an den Menschen und deren Behausungen noch unverhüllt sichtbar sind. Lena und Stefan, von den gegensätzlichen Seiten der Geschichte kommend, unternehmen, sich zwischen Überlebenden und deren Nachkommen bewegend, einen Versöhnungsversuch...“ (Klappentext)

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