DB-032 (13) (Du siehst nun Lena)
Und jetzt steigt Lenas Vater, nachdem er sich den Anzug sorgfältig geglättet und Lena den Vortritt gelassen hat, in den Wagen (es ist ein erst acht Monate alter Renault 4 CV). Ohne den Hut abzunehmen, fährt er, bis in der Nähe der Reichsbrücke der Motor abstirbt und nicht mehr zu starten ist, was beide zwingt, zu Fuß nachhause zu gehen.
Plötzlich wendet sich der Vater zu Lena und sagt mit unveränderter Stimme: Ich hoffe, du hast es inzwischen bemerkt - wir sind Juden! Endlich erhält Lena die Antwort auf die nimmermüden Fragen der Lehrer, der Mitschülerinnen und Mitschüler, die prompt auf die Angabe ihres französischen Geburtsorts gefolgt sind.
Zuhause ist man immer mit der Ausrede auf die Kriegsumstände Gesprächen über die Vergangenheit aus dem Weg gegangen, allerdings mit der Zusicherung, bei entsprechender Reife werde Lena mehr erfahren.
Du siehst also Lena, reif für die große Enthüllung, ein zappliges, verstörtes Mädchen mit einem widerspenstigen Bubikopf und einer blutenden Wunde zwischen den Beinen. Du siehst sie mit einem Gesicht, das ein Gemisch aus Stolz und Scham ausdrückt, ihr typisches Schul-, ihr Pausengesicht, wo sie horchend mit dem Rücken zu jenen lehnt, deren Väter Soldaten waren, als solche vermißt oder gefallen sind, während ihr Vater lebt, sichtlich heil dem Krieg entronnen ist, aus dem Krieg ihre Mutter und sie selbst mitgebracht hat.
Sie sind nicht ermordet worden wie die Mehrzahl ihrer Verwandten (das hat sie Nebensätzen entnehmen können). Sie sind nicht wie die Überlebenden ins fremdsprachige Ausland, nach Übersee ausgewandert, sie sind heimgekehrt, gleich im Jahr 45, und in der Heimat untergetaucht.
Du siehst Lena, wie sie mit niedergeschlagenem Blick neben ihrem Vater geht. Dieses Wort Jude muß sie sofort mit dem Wort Nazi zusammenbringen. Denn das Wort Nazi ist ihr im Gegensatz zum Wort Jude aus den Gesprächen ihrer Eltem geläufig: Ihre Wohnung ist nämlich eine Nazi-Wohnung; und die Möbel, die in einer Ecke des Wohnzimmers eingehüllt stehen, sind Nazi-Möbel; und ihr früherer Besitzer, der es nicht für nötig befunden hat, sie abzuholen, ist ein Nazi-Arzt gewesen. Neu ist das Jüdisch-Sein, nicht neu dagegen das Kommunist-Sein.
In der Schule gibt es einen Lehrer, der von den andern immer adrett Gekleideten dadurch absticht, daß er verlottert und ungepflegt daherkommt. Oft betritt er das Schulhaus unrasiert, schlurft mit offenem Mantel durch die Gänge, legt diesen auch während des Unterrichts nicht ab und kümmert sich nicht um kichernde Münder und hämisch auf ihn weisende Finger.
Man sagt, er ist Kommunist. Daher hat Kommunist-Sein für Lena bedeutet: dreckig sein, ausgelacht werden. Andererseits ist ihr Vater weder dreckig noch wird er ausgelacht; im Gegenteil - er stellt eine angesehene Person dar, deren Ruf sie manchmal einsetzt, um feindliche Mitschüler mundtot zu machen.
Das Kommunist-Sein hat der Krieg gebracht, der jetzt in der Familie verleugnet wird. Das Kommunist-Sein ist nie verleugnet worden, aber Lena hat aus den Reaktionen der Umwelt schnell gelernt, daß man doch besser darüber schweigt. Das Jüdisch-Sein ist sowieso nie erwähnt worden, war ein sorgsam gehütetes Geheimnis, vermeintlich zum Schutz des Kindes Lena.
Aber du siehst eine Lena, deren Verwirrung eine Folge des ständigen Verschweigens darstellt. Sie ist jetzt mit ihrem Vater auf der Mitte der Brücke angelangt. Wenige Autos, eine rumpelnde Straßenbahn, graubraunes, schnell fließendes Wasser, trüber Himmel.
Du hörst jetzt die wie gewöhnlich etwas brüchige Stimme des Vaters. Wir Juden sind immer verfolgt worden, sagt er. Aber daran sind wir zum Teil selber schuld. Wir haben uns abgesondert, absondern lassen. Und wir haben uns immer als auserwähltes Volk gefühlt. Wir haben die andern ausgeschlossen, genauso wie sie uns ausgeschlossen haben. Zwischen Nichtjuden und Juden haben wir eine Grenze gezogen, genauso wie die Nichtjuden zwischen sich und uns Juden eine Grenze gezogen haben. Aber wir haben die Nichtjuden weder verfolgt noch ihnen alles Böse in die Schuhe geschoben, noch sie ausrotten wollen.
Dieses Mädchen, das Worte hört, die es nicht hören will, weil sie nicht zu fassen sind, bin ich. Dieses Mädchen von damals steckt noch tief in mir, und es bedarf nur eines falschen Worts, einer verräterischen Geste, um es auftauchen zu lassen. Dieses Mädchen, das noch immer ich bin, schwankt wie damals zwischen Stolz und Angst, Kampflust und Unterwerfung.
(Die Berliner Entscheidung, Residenz Verlag, 1984)