Donnerstag, 29. November 2012

DB-033 14 (Mit der U-Bahn zum Straußberger Platz)

14

Mit der U-Bahn zum Straußberger Platz; dann die Karl Marx-Allee runter, an den dortigen Emmentalerbauten vorbei, an den Schlangen vor den Geschäften; von der Karl-Marx-Buchhandlung zur Marchlewitzstraße, dann mit der U-Bahn zur Endstelle Tierpark; schließlich weiter mit der Straßenbahn und den letzten Kilometer wieder zu Fuß mit einem Netz voller Bücher, bei starkem Gegenwind; eine Bewegung, die für Stefan notgedrungen im Schlafzimmer endet, in Beates (oder Götzens) Bett.

Wer welches benützt, hat er nicht herausfinden wollen, und jetzt, wo er sich flachgelegt hat, um die schmerzenden Beine zu entspannen, will er sich nicht erheben, um Fragen nach der tieferen Bettgrube, nach Frauengeruch, nach Flecken – Samen oder Farbe – nachzugehen. Trotzdem kann er sich vorstellen, daß Götz sich manchmal, auf einen kleinen Block, noch etwas mit Pinsel und Farbe notiert, wenn er irgendwann in der Nacht aufwacht, schlaftrunken, und eine Bildidee, eine dunkle, vor sich hat, die sich nicht verflüchtigen soll.
Oder er schläft, weder von Licht noch von Geräuschen aufstörbar, seine sieben, acht Stunden, während die schmale Beate oft längere Zeit wach in der Finsternis neben dem schnarchenden Mann liegt und sich schließlich zum Schreibtischchen schleicht, um sich dort ihre Karteikarten, ein Buch oder eine Zeitschrift zu schnappen und draußen, in der Küche oder im Bad, an ihrer Doktorarbeit weiterzubosseln.

Stefan massiert seine Waden. Als es läutet, springt er auf, schlüpft in die Pyjamahose, geht zur Tür und öffnet. Ein etwa sechsjähriger blonder Bub steht da und zischt empört: Das ist meine Wohnung! Sascha, grinst neben ihm Boris, sein zwölfjähriger Bruder, mit breiten, roten Lippen und einem Bürstenhaarschnitt.

Hinter ihm erscheint Vater Götz: Stefan identifiziert ihn nach den Fotos, die er bei Lenas Vater gesehen hat. Neu ist, daß auch Götz die Haare fast geschoren hat und dadurch so preußisch wirkt, wie er sich wahrscheinlich gar nicht gern einstufen ließe. Vielleicht hält er den Vollbart für den notwendigen Ausgleich zur Beinahe-Glatze.

Er plaziert die Koffer mit dem Schwung eines Athleten gleich neben die Tür des Vorzimmers, reicht Stefan seine Pranke, grüßt knapp und drückt die ihm aus dem Wohnraum entgegenschwingende Lena heftig-jovial an sich, über ihre Schulter hinweg ins offene Schlafzimmer einen Kontrollblick werfend. Wir kommen geradewegs von der Ostsee, sagt Götz offensiv ruhig, willkommen bei uns!

Stefan zieht sich vor soviel Gesundheit, Frische und Kraft sofort zurück und wendet sich kurz der blaß und leidend aussehenden Beate zu, um dann Boris und Sascha beim Abschreiten der Zimmer und Begutachten der Veränderungen zu beobachten.

Plötzlich schreit Sascha: Das war nicht ausgemacht, worauf ihn der Bruder, in Tonfall und Stimme dem Vater ähnlich, zu beruhigen versucht. Der Boris habe einfach seine Autos, seine Matchboxautos genommen, hört Stefan, worauf Götz seinen kleinen Sohn mit dem Hinweis auf das vom Meer mitgebrachte Geschenk für Lena, seine Tante, ablenken will. Außerdem solle er nicht verrückt spielen, wenn Gäste im Haus seien. Er habe diese Fremden nicht eingeladen, antwortet Sascha trotzig.

Stefan, jetzt das vierte männliche Wesen, hält kurz ein fünftes – Josef, sein Erinnerungsbild von Josef – gegen diesen Götz, der es sichtlich genießt, aus seinen beiden Söhnen alles scheinbar Weibliche herauszupressen, das scheinbar Männliche – Ruhe, Gelassenheit, Sicherheit, Stärke, Geistesgegenwart – als Rollenverhalten zu fixieren.

Josef: als Kind, von der Mutter stets zu Höchstleistungen aufgestachelt, steht er auf einem leeren Sockel am Heldenberg Radetzkys, einen roten Apfel als Reichsapfel in der Hand haltend, in Lederhose, grünen Socken, braunen, groben Schuhe, mit einem schnurgeraden Scheitel und einer braunen Schmachtlocke, gewitzter Mutterverführer, Mutterbefriediger; bis er - nach Beginn des Studiums - endlich genug hat, flieht, immer weiter weg, schließlich in Berlin landet, dort Frauen anlockt und abstößt: Keine Beziehung dauert länger als drei Monate, keine Freundin schafft es, Josefs Frauen- und Kinderfeindlichkeit länger zu erdulden.

Stefan beschließt, sich aufs Bett zu legen, weil er von dort aus einen guten Überblick hat. Zugleich aber kann er auf diese Weise zeigen, daß er sich im ehelichen Schlafzimmer der Langs wie zuhause fühlt, daß er die Farben und Gerüche bereits nicht mehr als fremde wahrnimmt, daß er die Standorte der Möbel, die möglichen Raumstimmungen, die Veränderungen des Lichts und der Farben bereits seit ihrer Ankunft aufmerksam registriert, auf sie reagiert hat.
Stefan sieht durch die offene Tür, wie Lena aus dem Rohr zieht, was sie an Essen vorbereitet hat. Der Eindringling fühlt sich pudelwohl. Er korrigiert seinen Satz: Das Pudelwohlsein wird einem von den hauseigenen Eindringlingen sofort wieder ausgetrieben, denn jetzt beginnen diese ein abenteuerliches Hin und Her vom Vorzimmer durchs Wohnzimmer, durchs Schlafzimmer, durch die Küche und kreuz und quer, mit einem unverschämten Getöse, einer unverschämten Selbstverständlichkeit.

Die mitgebrachten Bücher nützen als Ablenkung wenig, weil ja Lenas und Stefans offene Koffer ihre provisorische Niederlassung demonstrieren, die Sessel, auf denen ihre Kleidungsstücke hängen, weshalb nun auch Beates Fürsorge einsetzt, ihr Bedauern, daß man keine Fächer im Kasten für die Gäste freigemacht habe.

Stefan winkt höflich ab und ist dankbar, daß nun Sascha hereinstürzt, sich an sie hängt mit der Frage, was denn ihre Sachen in seinem Zimmer zu suchen hätten, worauf sie sich zur Erklärung genötigt sieht, daß jetzt sie und Götz – solange das Schlafzimmer belegt ist – dort schlafen würden. Dafür dürfe er mit Boris in dessen Zimmer wohnen. Wider Erwarten folgt darauf kein Protestgeheul, sondern nur die Bedingung, daß dann auch der Fernseher im gemeinsamen Zimmer aufgestellt werden müsse.

Kaum sind die beiden draußen, steht auch schon Götz vorm Kasten, rafft, was ihm schmutzig erscheint, heraus und trägt es ins Bad, wo bereits nach kurzer Zeit die Waschmaschine rumpelt.

(Die Berliner Entscheidung, Residenz Verlag, 1984)

User Status

Du bist nicht angemeldet.

Free Text (1)

Dieses Weblog wird hier archiviert.

Archiv (ab 1967)

Lyrikbände:

Der zarte Leib

Friede den Männern

Das leere Kuvert

Eurotunnel

Obachter

Schreibzimmer

Romane:

Die Berliner Entscheidung

Originalverpackt oder mit Widmung über e.a.richter(ett)gmx(punktt)at erhältlich.

„...Dies ist der Versuch eines komprimierten Familienromans, zugleich ein Reisebericht, der an einen Ort führt, wo die Kriegsschäden an den Menschen und deren Behausungen noch unverhüllt sichtbar sind. Lena und Stefan, von den gegensätzlichen Seiten der Geschichte kommend, unternehmen, sich zwischen Überlebenden und deren Nachkommen bewegend, einen Versöhnungsversuch...“ (Klappentext)

Fliege. Roman eines Augenblicks

Aktuelle Beiträge

0126-1b A KIND OF DEPARTURE
the lady of the house speech-impaired since an incomprehensible...
e.a.richter - 2015-12-30 07:09
0126-1a AUCH EIN ABGANG
die gnädige frau sprachgestört wohnt sie seit einem...
e.a.richter - 2015-12-26 03:43
0107a - THE TEACHERS
the teachers leave the school the prettiest teacher...
e.a.richter - 2015-12-23 21:27
DT-001 FETISCH
(YVONNE) ihre weiße Bluse steif, ein Fetisch, der...
e.a.richter - 2015-12-21 12:12
DZL-18 DAS BETT
das Bett, das alles verraten wollte und nichts verriet:...
e.a.richter - 2015-10-07 04:22
DZL-17 PUPPI
was zu sehen ist, in einzelne Stücke zerlegen; alle...
e.a.richter - 2015-06-02 08:44
DZL-01 WIR GLAUBTEN AN...
wir glaubten an das Blut. Dieses Wir ist mit Vorsicht...
e.a.richter - 2015-05-07 13:59
DZL-02 MEIN PATTEX
mein Zauberer hieß nicht Pattex, nicht Expatt. Er lebte...
e.a.richter - 2015-05-07 13:58
DZL-03 DER ZARTE LEIB
Zartleibigkeit wird vermißt, auch intensive Zartlebigkeit....
e.a.richter - 2015-05-07 13:56
DZL-04 - ZU MEINER ZEIT
zu meiner Zeit war gar keine Zeit. Die Zeit hatte sich...
e.a.richter - 2015-05-07 13:55
DZL-06 IN DIE HÖHE SINKEN
schwierig zu lesen: Er begriff seine Geschichte. Blatt...
e.a.richter - 2015-05-07 13:53
DZL-07 TISCHLERPLATTE
mein Vater, Tischler, hatte keine Tischlerplatte, er...
e.a.richter - 2015-05-07 13:52
DZL-08 GOLD, GLANZ, HEITERKEIT
sie sagt, ich bin älter als mein Vater, als er zu...
e.a.richter - 2015-05-07 13:51
DZL-09 WIR GLAUBTEN AN...
wir glaubten an das Blut. Dieses Wir ist mit Vorsicht...
e.a.richter - 2015-05-07 13:51
DZL-10 BRAUTMASCHINE
ein Mann braucht nur eine Wand und eine Braut. Er braucht...
e.a.richter - 2015-05-07 13:50
DZL-11 SCHWIMMERIN
wenn sich das Tor geöffnet hat, fährt allen in ihren...
e.a.richter - 2015-05-07 13:50
DZL-12 FRESSEN UND WUCHERN
Gedichte zu fressen ist nicht meine Sache. Ich lese...
e.a.richter - 2015-05-07 13:49
DZL-13 KONTROLLE VERLIEREN
Kontrolle verlieren, im Nebenraum, wo alles aufgetürmt...
e.a.richter - 2015-05-07 13:49
DZL-14 MUNDSCHUTZ FÜR...
es begann mit strahlenden Augen, auf einer Schnitzerei...
e.a.richter - 2015-05-07 13:48
DZL-15 JUNGE FRAUEN...
dem kleinen Mann macht die Situation einen Gefallen: zwei...
e.a.richter - 2015-05-07 13:48

Free Text (2)

Free Text (3)

Archiv

November 2012
Mo
Di
Mi
Do
Fr
Sa
So
 
 
 
 5 
15
21
23
25
 
 
 

Suche

 

Status

Online seit 4848 Tagen
Zuletzt aktualisiert: 2016-01-06 11:08

Credits


A Roma etc.
Das leere Kuvert
Der zarte Leib
Detonation und Idylle
Die Berliner Entscheidung
Erste Instanz
Eurotunnel
Fliege (Notizen)
Friede den Männern
Jetzt
Licht, Schatten
Namen
Obachter
Pessimismus & Erfahrung
Schreibzimmer
Stummfilmzeit
... weitere
Profil
Abmelden
Weblog abonnieren