DB-74 (27) (Während sich neben uns ein älteres Paar niederläßt)
Man kann zugleich das Paar nebenan beobachten, Oskar signalisieren, daß man Appetit auf mehr hätte, aber sich nicht näher festlegen, was das "mehr" eigentlich heißt. Man kann plötzlich aus dieser pubertären Anwandlung aufschrecken, das Gegenteil von dem feststellen, was man soeben dezidiert behauptet hat, erstaunt sein über die Mißverständnisse, die ein einfaches deutsches Wort wie z. B. Wald auslösen kann. (Gehn wir in den Wald! Schaun wir uns doch den Wald einmal an! Lassen wir uns im Wald, im deutschen, häuslich nieder! Achten wir nicht auf die Unwirtlichkeit der Witterung, konzentrieren wir uns ganz auf uns und den Wald! Der Wald - unser Freund und Retter. Wir brauchen ja kein Gespräch über die Bäume des Waldes zu führen. Undsoweiter.)
Das Paar schmatzt und schleckt und schlürft einträchtig, während Oskar versucht, mit seiner Serviette die Mundwinkel von Speiseresten zu reinigen. Diese Wischgeste fasziniert mich. Ich könnte sie jetzt mit meinem Taschentuch wiederholen, in ein Streicheln umlenken. Einen alten Mann streicheln, der darunter auflebt, sich erhebt, zu jauchzen oder jodeln beginnt, so das ganze Lokal, die Gäste, das Küchenpersonal aus den Angeln hebt.
Du siehst, es geht mir gut. Eine extreme Neigung wechselt die andere ab. Schau ich zur Decke, regnet es Kometen. Schau ich zu Boden, züngelt das Feuer aus dem Erdinneren herauf. Niemand merkt das.
Nur Oskar lächelt mehrdeutig. Er verlangt die Rechnung. Als er sie in den Händen hält, studiert er sie aufmerksam mit aufgesetzter, randloser Brille. Erst dann bezahlt er. Nachdem der Kellner weg ist, erklärt er sein Verhalten, das hier keinen Sinn hat, mit der Gewöhnung ans Vergleichen der Preise im nichtsozialistischen Ausland. Zugleich hält er fest, daß er sich bis jetzt nicht an diese Jagd nach dem jeweils billigsten und besten Produkt gewöhnt hat, wobei sich noch dazu das Preis-Leistungs-Verhältnis ständig verschieben kann, sodaß daraus sich die Verwandlung des einfachen Konsumenten in einen ständig auf der Hut seienden, ständig mit dem Betrogen-Werden rechnenden Warendetektiv ergebe.
Oskar steht auf, bietet mir seinen Arm, hilft mir ins Auto und fährt gleich weg. Vorsichtig, ganz Vatergegensatz, auch dabei. Funkelnde Zweideutigkeiten, der Wein hat ihn animiert.
(Auch meine Vorsicht: immer diese Vernunft, die zur Mäßigung mahnt. Was ich an Wünschen zulasse, ist das Ergebnis meiner vernünftigen Vorsorge, die anscheinend eine Form von Selbstliebe darstellt. Die denkt sich einen vernünftigen Umweg aus, während das Bedürfnis als gerade Linie einleuchtet. Aber unter dem Vernunftkompromiß rumoren die wahren Wünsche. Die gezinkten Karten wegwerfen, aufdecken, was wirklich in mir steckt.)
In meinen Träume fährt oft ein alter Mann Auto. Wie Oskar oder mein Vater. Im letzten Traum, der mir spontan einfällt, hat mich dieser (es war bestimmt nicht mein Vater) sehr gewalttätig behandelt, mich in die Ecke geworfen, nachdem er das Auto angehalten, reversiert hat und rückwärts in eine Garage hineingefahren ist. Ich denke mir, daß dieser Gewalttäter ich selbst gewesen sein könnte (ich bin mir aber deiner Zustimmung nicht sicher). Auch das Auto war ich (da ich ja am liebsten, um keine Angst vor einem Unfall haben zu müssen, selber lenke). Ebenso die Garage (als Frau, in die etwas Unförmiges geschoben wird, die dieses umhüllt, verschließt). Und wenn dann noch (wie in der Geisterbahn) von allen Seiten Hände nach mir greifen, schreie ich hysterisch auf: Nicht auszuhalten ist diese Bedrohung, die aber zugleich sehr attraktiv wirkt!
(Die Berliner Entscheidung, Residenz Verlag, 1984)
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