DB-019 7 (Eine seltsame Verklärung)
Eine seltsame Verklärung: wie hinter Glas die Bewegungen Oskars, Lydias, auch Stefans. So als ob ich sie alle nicht wirklich greifen hätte können, nicht wirklich hören und anschauen. Wie weggewischt die schmerzhafte Deutlichkeit des Wiedersehens mit Oskar nach so vielen Jahren der Trennung, des verborgenen Aufbewahrtseins.
Du hättest diese Situation genossen wie ich (zu solch leichtsinnigen Übertragungen bin ich fähig) - diesen beinahe Sechzigjährigen gegen den anderen, fast fünfundzwanzig Jahre Jüngeren zu halten, der sich so vehement in mein Leben hineingedrängt hat, die Nase immer auf der Spur des Älteren. Wenn ich sage: Ich liebe beide, den möglichen Vater und seinen möglichen Sohn, dann beschreibt das meine Gefühle sehr ungenau. Ich nehme daher einen Raum zuhilfe, das Wohnzimmer in Oskars Wohnung, und weise beiden (fiktiv) einen festen Platz zu, um den Rang ihrer Nähe zu mir zu kennzeichnen.
Stefan nimmst du einige Schritte entfernt von mir wahr, mindestens drei, höchstens fünf. Bei Oskar ist mir die Entfernung egal; er könnte sogar schräg hinter mir stehen, wenn er es wünscht. Wichtig ist, daß Stefan uns beide im Auge behalten, daß auch ich ihn direkt anschauen kann. Wäre da nicht die Eifersucht Stefans (oder Lydias), würde ich Oskar sogar gestatten, sich an mich zu lehnen: So würden wir dann alle drei für ein Erinnerungsbild in Stefans Kamera blicken.
Oskar bewegt sich auf gleicher Höhe, ich muß den Kopf nicht heben. Stefan dagegen (und das ist der Grund der Distanzierung) kann ich aus unmittelbarer Nähe nur betrachten, indem ich den Kopf in den Nacken werfe, eine mir von klein auf eingedrillte Bewegung, deren Winkel sich seither nicht viel geändert hat.
Trotzdem ist mir das Stehen lieber als das Liegen. Denn dieses heißt immer zugleich das jahrhundertelange Auf-der-Couch-Liegen. (Jetzt mußt du wohl lächeln: du hast deine Couch, wie du immer wieder betont hast, vor Jahren verschenk!) Und es mündet nicht in einem Liebesakt, sondern in einem Akt der partiellen Selbstvernichtung, der Selbstbezichtigung, des unweigerlichen Schuldbekenntnisses.
Ich gestehe, ich bin an den Sorgen meiner Eltern schuld, an der Dauerverwirrung Stefans. Ich bin schuld, daß ich mich nirgendwo zuhause fühle, daß ich (wider besseres Wissen) meinen Vater nachahme, daß ich schwach und hilflos zusammenbreche angesichts der Gewalt dessen, was vor und während meiner Geburt das Leben meiner Eltern bestimmt hat. Ich gestehe (doch nur dir, immer wieder, stehend, im Kreis gehend, durch deine Wohnung wandernd), daß ich an meiner ununterbrochenen Fluchtbewegung selbst schuld bin.
Hier, im Haus der Frau König, in der Wohnung meiner Cousine Beate, wird mir bewußt, daß dies auch nur eine kurze Station sein kann, von der ich mir vorher eine gewisse Beruhigung (auch für Stefan) versprochen habe. Ich spiele verschiedene Personen. Ich habe den Bruch in mir, der mich dem einen (zum Beispiel Oskar) warm und liebenswürdig erscheinen läßt, dem andern (zum Beispiel Stefan) kalt und abweisend. Ich lebe in der Welt der Bücher, die ich lese, im Traum der Bücher, die ich übersetze.
Wenn ich von meinem Arbeitstisch aufblicke, aufgeschreckt durch eine Stimme von draußen mich erhebe, dann reißt vor mir der Boden auf, und ich wage nicht, über diesen heiß dampfenden Spalt zu springen. Ich existiere weiter als eine, die sich ständig in den Figuren des Romans, den Beate gerade übersetzt, auf das heftigste widerspiegelt; an der die Fetzen der verschiedensten Charaktere haften bleiben, unfähig zu einer substantiellen Scheidung der Geister.
(Die Berliner Entscheidung, Residenz Verlag, 1984)