DB-031 13 (Unsere Wege trennen sich)
Unsere Wege trennen sich, finden zusammen, trennen sich wieder. Der Alexanderplatz ist so groß, von einer solch offenen Weite, daß zwei wie wir einander nicht einmal wie Pünktchen am anderen Ende wahrnehmen können. Ich will Bücher und Schallplatten für meinen Vater besorgen. Natürlich will Stefan auch hier sich nicht anstellen. Es ist mir nur recht: Wegen meiner aufgesparten Explosion wäre sowieso kein gütliches Auskommen mit mir.
Während ich fröstelnd, eingereiht in die auf einen Plastikkorb Wartenden, vor der Buchhandlung stehe und den schnell dahinjagenden Schneewolken nachschaue, erinnere ich mich an Stefans ungläubige Augen, damals auf dem Weg zu Oskars Wohnung. Dorthin schleppte ich ihn mit, nachdem wir miteinander beim Fotografen in der Gegend der Station Jannowitzbrücke, wo wir die Bildstreifen für ein CSSR-Durchreisevisum abholten, bekanntgeworden waren.
Er kam mir zuliebe bereits zum dritten Mal von Westberlin herüber, tappte lachend neben mir her, sichtlich anlehnungsbedürftig, verliebt, und konnte noch immer nicht fassen, daß er hier auf eine Genossin aus Wien gestoßen war, die überdies höchst auffällig ihr Interesse an ihm zeigte.
Auf einmal irritierte mich etwas. Und es war wie immer in einer solchen Situation: Plötzlich stockt mir der Atem, das Blut steigt mir ins Gesicht, aber ich fühle mich nicht. Und dieser lächelnde, molluskenhafte Stefan ist schutzlos dem geifernden Ausbruch dieser lächerlich erregten Lena ausgeliefert, die ihn eines Vergehens, das mit ihm nichts zu tun hat, bezichtigt, ihm erbarmungslos ihre Vorwürfe um die Ohren schlägt, dem Zwang der Wiederholung nicht widerstehen kann, sich zugleich vor einer neuerlichen Liebesniederlage auf das heftigste fürchtend.
Vielleicht will sie nur einer Demütigung zuvorkommen. Vielleicht will sie sich nur nicht verstellen müssen, um sich eine längere Dauer der Zuneigung zu erkaufen.
Lena liebt sich nicht, Lena will nicht geliebt werden, Lena will den Verpflichtungen einer neuen Liebe entgehen. Lena will den potentiellen Liebhaber auf die Probe stellen, wie sie ihr Vater immer wieder auf die Probe gestellt hat.
Obwohl Lena so frei ist, sich hier viel freier als in Wien zu fühlen, siehst du sie jetzt aufgerissen, niedergeschmettert von der Macht ihrer Gefühle. Du mußt sie als Marionette begreifen, die einem hampelmännischen Spiel ausgeliefert ist, weshalb sie sich selbst im Moment nur abgrundtief hassen kann.
In ihrer persönlichen Mythologie hat sie dafür einen Fixpunkt: den Gang mit dem Vater über die Reichsbrücke in Wien, wo sich ihr mit einem Schlag alles bis dahin nur dumpf Geahnte, unter dem sie schon immer gelitten hat, zu einer bitter einleuchtenden Erkenntnis verdichtet.
Sie tritt nun als beinahe Dreizehnjährige vor dich. Du entdeckst sie mit ihrem Vater im Hof einer städtischen Wohnhausanlage jenseits der Donau am Beginn ihres Sonntagsausflugs, diesmal ohne Mutter und Bruder.
Beim Leopoldsberg angelangt, steigen sie rasch hinauf, beinahe im gleichen Tempo, sie stumm, während ihr Vater auf sie einredet, Thema Schule, wozu sie nichts zu sagen hat. Vor knapp zwei Monaten hat die dritte Klasse begonnen, aber Lena hat den Schock des Übertritts von der Volksschule ins Gymnasium, weg vom Schoß ihrer über alles geliebten Lehrerin, noch immer nicht überwunden.
Oben auf dem Plateau des Bergs hält ihr Vater kurz an, um sie (zum wievielten Mal?) auf die Vorzüge der Lage der Stadt Wien hinzuweisen und sich dann gleich an den Abstieg zu machen, wobei er ihr eindringlich ans Herz legt, wieder mit ihm zu lernen. (Ich habe diese väterlichen Nachhilfestunden, den Schrecken dieser Stunden dir gegenüber ja schon mehrmals erwähnt.)
Lenas Konzentrationsschwierigkeiten, wie sie in der Schule häufig aufgetreten sind, verschlimmern sich in der sie bedrängenden Gegenwart ihres Vaters.
Da muß sie gähnen, gähnend zum Fenster hinschauen, worauf ihr Vater sofort in Zorn gerät und sie anbrüllt. Er trägt den Schulstoff mit der furchtbaren Unbedingtheit eines Lehrers vor, was Lenas guten Willen sofort verscheucht.
Du hörst die triefende Pädagogik in seiner Stimme; zugleich hörst du andere Stimmen, süße, die möglichen Obertöne, die Intonation eines Versprechens, dessen Erfüllung noch in der Zukunft verborgen war. Du hörst Lena ihm hundertmal schwören, sie werde ihre Ohren aufsperren, alles willig aufnehmen und sofort zu verstehen.
Zugleich erkennst du ihre ungenauen, unerfüllbaren Sehnsüchte, die Erinnerungen an die Hofspiele, die das Mistkübelhäuschen in ein Schloß verwandeln oder in eine Räuberhöhle, die Klopfstange in ein Sofa oder in einen reißenden Fluß, durch den die schöne Lena von ihrer besten Hoffreundin getragen werden muß, der Heldin, die sie, ohne zu zögern, aus allen brenzligen Situationen befreit.
(Die Berliner Entscheidung, Residenz Verlag, 1984)