0086 - FREAKS

1

immer
wenn du vom tisch
aufstehst oder abends
vom fernseher weggehst
oder einfach die tür
zu deinem zimmer zuschnappen läßt schmerzt
es mich sehr

2

aus dem stillen abend
in den stillen morgen
irgendwas nehmen
und sichs in den mund stopfen
eine unglaubliche vielfalt
von erniedrigungen

3

der schmerz
kommt hinter der verschlossenen tür
hervor der schmerz
ist der staub am teppich am boden die abgekratzten wände der schmerz
ist die unordnung die hier herrscht
die verwechslung von tages und jahreszeiten notgedrungen
die notgedrungene unmenschlichkeit
eine unbändige art
von zärtlichkeit die nie
herauskann

4

du sagst
horror siehst
horror
und horror springt
zwischen deinen beinen hervor
und im spiegel ist nichts
zu sehn nur ein gewaschenes
rasiertes gesicht
das sich nicht
erkennt


5

freaks
das heißt mißgeburten menschen wie du
und ich ohne beine ohne hände
oder beides mannweiber
weibmänner siamesische
zwillinge stotterer spindel- und vogelmenschen kleinhirnige

(12.1.1971)
e.a.richter - 2012-01-08 18:11



Mehr dazu hier.

SehnsuchtistmeineFarbe - 2012-01-10 23:39

horrorfilme mag ich mir

nicht ansehen. aber ihr gedicht habe ich sehr gern gelesen. es hat etwas, das ich nicht benennen kann. vielleicht haben sie das gefühl übertragen, das sie hatten, als sie den film sahen und später, als sie dieses gedicht schrieben. irgendwas ist es, aber ich kann es nicht greifen.

e.a.richter - 2012-01-11 22:09

Liebe S., nach meiner Erinnerung könnte der Film „Freaks“ der Auslöser dieses Gedichts gewesen sein. Nicht nur eine Schlußpointe ist der Verweis darauf.
Freak und Horror waren in meinem Kopf damals wahrscheinlich nicht so eng verknüpft, wie es Ihnen erscheinen mag. Ich war nie ein Freund von Horrorfilmen.
Das Alltagsleben in einer Beziehung hat wohl immer auch etwas Horribles. Es gibt einen Detailblick auf den anderen, der die Grenzen der Duldsamkeit strapaziert. Man könnte auch meinen, der Horror ist die Normalität, und man hat nur die Wahl, damit umgehen zu lernen oder ein Zusammenleben zu vermeiden.
PS:Freak hier also in der Bandbreite von „Laune der Natur“ bis „Aussteiger“ (der 60. und 70er Jahre).
Iris2002 - 2012-01-12 23:50

Horrible

ist vielleicht etwas stark ( vor allem im Englischen), aber durchaus realistisch - der "Detailblick auf den anderen, der die Grenzen der Duldsamkeit strapaziert" - besser kann man es wahrscheinlich nicht ausdrücken... und ich bin überzeugt, es ist lediglich die Entscheidung, dass man damit umgehen lernt, wenn man länger zusammenlebt und nicht eine irgendwie mysteriöse, romantische oder sonstwie geartete *Fügung*. Das ist sicher nicht das, was ein Film suggeriert, wenn es ein 'Happy End' gibt ;) - das bezieht sich nicht auf den Freaks Film natürlich, den kenne ich nämlich ohnehin nicht.

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