DB-017 (6) (Stefan öffnet erfreut die Telefonzelle)
Ein Telefon habe er zwar, es sei leider derzeit außer Betrieb. Die Umstehenden lachen höhnisch, und Stefan bezieht ihr Gelächter im ersten Moment auf sich. Einer tritt an ihn heran und sagt in vertraulichem Ton, doch laut genug, daß die Mitzecher ihren Spaß dran haben können: Mann, mußt du denn überhaupt telefonieren? Vergiß es, da hast ja nix wie Ärger, fahr doch lieber gleich hin zu deinem Röschen! Der Wirt korrigiert ihn sofort: Jetzt sei sichtlich kein Röschen gefragt, sondern nur eine Straße zur zeitgerechten Erreichung eines frugalen Mahls. Auf einmal greift sich der Betrunkene an den Kopf, tut, als denke er angestrengt nach: Rillestraße, Rillestraße ... ja richtig, da sei doch auch eine drüben in Friedrichshagen, dahin komme er allerdings nur mit der Taxe; Einschränkung: ein Standplatz sei nicht hier, sondern erst vorm Bahnhof Köpenick.
Um nicht wieder einem Fußmarsch ausgeliefert zu sein, stellt sich Stefan zur Endstelle der Straßenbahn. Das Wartehäuschen ist ziemlich desolat, die Wände sind beschmiert, der Verputz liegt auf dem Boden. Sein Blick muß feindlich gewesen sein, denn einer der beiden hin und her schlendernden Männer - der im alten, hellbraunen Ledermantel, zu dem er auf dem Kopf einen eleganten, breitkrempigcn Hut trägt - bleibt kurz stehen, um ihn eindringlich auf den Zusammenhang zwischen dem akuten Arbeitskräftemangel und dem schlechten Zustand der Gebäude hinzuweisen.
Stefan nickt und lächelt verbindlich. Der Ledermantelmann biedert sich über das Gleis hinweg mit dem dort Wartenden an: Das ewige Huhn gehe ihm schon auf die Nerven. Einmal was anderes zu den Feiertagen, antwortet der von drüben, da helfe nur Truthahn. Der, den er schon seit Tagen esse, der sei prima. Aber seine Angetraute, die Elsa, ja, die sei auch eine prima Köchin.
Die Weiterfahrt mit dem Taxi führt Stefan an einem weißen Schloß vorbei, das jetzt als Kinderkrippe dient, und einer weitläufigen Yachtwerft am Ufer der Müggelspree. Von außen sagt ihm das gelbliche Haus in der Friedrichshagener Rillestraße überhaupt nichts. Obwohl sich schon im Treppenhaus eine dunkle Erinnerung meldet, ist er sich erst ganz sicher, als ihm Oskar, der in seiner weißen Schürze kleiner und fester aussieht als auf den Fotos von Lena, leibhaftig öffnet.
Die Wohnung ist nicht wiederzuerkennen. Anstelle der früheren gediegenen Sachlichkeit beherrschen jetzt dicke Wollteppiche, Blümchentapeten und Fertigteilmöbel das Bild. Aus dem Schlafzimmer von damals ist ein Eßplatz geworden. Das Doppelbett ist verschwunden, eine Zwischenmauer eingezogen worden.
(Die Berliner Entscheidung, Residenz Verlag, 1984)
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