DB-018 (6) (Vor der Durchreiche)
Seine Augen, jetzt zu Monstren geworden, starren um die Ecke, haben den bösen Blick. Stefan kann nur den einen Fleck fixieren, der vor Nichtsein blendet; in diese erfüllte, selbstgenügsame Vergangenheit blicken, aus der diese banale Gegenwart wächst.
Dieses fleischige, rötliche Gesicht. Diese randlose, spiegelnde Brille. Äderchen überall. Härchen in den Nasenlöchern. Diese eisgrauen, gescheitelten, in einem demonstrativen Schwung über die Stirn geführten Haare. Kleine, anliegende, gelbliche Ohren mit den roten, fleischigen Läppchen. Diese empfindsam vibrierenden Nüstern. Diese Querfalte am Kinn, die sich mehrmals aufspaltet. Tränensäcke, von der Brille vergrößert. Diese Speichelreste in den Mundwinkeln. Blutspritzer auf der Schürze. Geschwollene Adern an den Händen. Diese glänzende, brüchige Haut um die Finger. Diese doppelte Narbe am Mittelglied des Ringfingers. Mehl unter den Nägeln. Diese graue Hose unter der Schürze. Dieser quellende Körper unter dem gestreiften Hemd.
Etwas vorgebeugt, aber noch immer straff, verbindlich, aber mit Haltung lächelnd kann sich dieser Oskar, der Stefan so viel Vergangenheit voraushat, feinen Spott erlauben, sich in seiner augenblicklichen Banalität in Frage stellen kann, ohne an Autorität zu verlieren. Das Fleisch, sagt er mit leicht heiserer Stimme und einer angedeuteten Verbeugung, sei wohl etwas härter geworden, als er beabsichtigt habe. Er verwende, sagt er, lieber die der Kritik zuvorkommende Selbstkritik.
Und seine Frau Lydia anblickend, stellt er fest: Ihren Kochkünsten unterwerfe er sich freiwillig, an sie reiche er nicht heran; nur zu ihrer Entlastung behellige er sie und seine Gäste mit seinem Unvermögen, seinem mühsam erarbeiteten Wissen, seinen lächerlichen Tricks als Hobbykoch.
Wie immer, antwortet Lydia, sei ihr Oskar nicht nur ein Meister der Küche, sondern auch ein Meister der Untertreibung. Er sei bei weitem vertrauenswürdiger als sie, sammle die besseren Rezepte, habe sie auch schon ausprobiert, habe ja in Genf, dieser Vielvölkerstadt, immer die beste Gelegenheit gehabt, seinen Geschmack und seine Phantasie zu schulen.
Während Oskar das Fleisch serviert, die Teller vollzaubert mit dem Hinweis, die wahre Kunst sei ja hier, das Wenige viel erscheinen zu lassen, das heißt: es breit zu fächern und den Rest mit Hilfe der Vorstellungskraft so lang zu strecken, bis sich die richtigen Geschmacksassoziationen einstellen, gesteht er, er sei der Erfinder des Chefkochs Jean-Jacques Langeau, der simple deutsche Speisen mit französischen Phantasienamen geschmückt habe und die Rezepte dann alle in der Zeitung, deren Genfer Korrespondent er ist, abdrucken ließ.
Nachdem diese dann tausendfach nachgekocht worden waren, ohne daß der Schwindel aufgeflogen ist, habe er nicht umhin können, der Redaktion vorzuschlagen, den Lesern den Mann und seine Kochkunst in natura vorzustellen. Worauf man, für den Fall, daß er dazu tatsächlich aufgefordert worden wäre, zu folgender Lösung gekommen sei: Er als Oskar Lang müsse krank werden, damit er als Jean-Jacques Langeau auftauchen könne.
Zur besseren Unkenntlichmachung habe man auch das Schwarzfärben des Haupthaars und das Aufkleben eines schwarzen Theaterbärtchens eingeplant gehabt. Lydia sei sls Übersetzerin vorgesehen gewesen. Da jedoch - aus unerfindlichen Gründen - diese Einladung bis jetzt nicht ausgesprochen worden sei, verharre er weiterhin im Zustand der Vorfreude auf dieses deutsch-französische Maskenspiel.
(Die Berliner Entscheidung, Residenz Verlag, 1984)
Trackback URL:
https://earichter.twoday.net/stories/db-018-6-vor-der-durchreiche/modTrackback