DB-042 (17) (Du kannst dir vorstellen)

Du kannst dir vorstellen, daß mich diese Charakteristik meines Onkels zunehmend aufgewühlt hat. Sie erscheint mir ungeheuerlich angesichts der Tatsache, daß Oskar als jugendlicher unter Einsatz seines Lebens gegen das Hitler-Regime gekämpft hat. Andererseits hatte ich nicht den Mut, diesen bedingungslosen Angriff zu unterbrechen, Götz den anderen Oskar, den er ja auch kennen muß, entgegenzuhalten, ihn zum Argumentieren zu zwingen. Ich rede mich auf die Höflichkeit des Gastes aus.

Da ist Götz schon wieder zurück, spricht mich an, in der Hand das Buch, das seine Aussagen belegen soll, darin so lange blätternd, bis er eine passende Beweisstelle gefunden hat: Die Leute warfen die Beine, daß die Stiefelspitzen über die Nasenspitzen hinauszuschwingen schienen, und es war ein einziger Schwung, wie ein einziges Bein, und es war die Haltung all dieser Körper, nein: dieses einen Körpers eine so krampfhafte Anspannung, daß die Bewegung zu erstarren schien, wie die Gesichter schon erstarrt waren, daß die ganze Truppe ebensosehr den Eindruck der Leblosigkeit wie der äußersten Belebtheit erweckte ...

Sein Triumph in den Augen blinkt unerträglich. Du hast einen Mann vor dir, der seinen Fuß auf den scheinbar erlegten Oskar stellt und von mir Beifall verlangt. Du hast eine Lena vor dir, deren Riß sich immer mehr vertieft. Um einen Zusammenstoß mit Götz zu verhindern, will ich mich sofort, ohne ihn anzublicken, zurückziehen, was er aber verhindert, indem er mich am Oberarm packt.

Ich wende mich hilfesuchend an Beate, die Götz vorhält, daß er wieder einmal heimlich gesoffen habe, was diesen aber nur einen Lacher kostet. Er baut sich vor der Tür auf, wölbt die Brust, legt die Arme an die nicht vorhandene Hosennaht und schwingt dann die Linke auf und ab, während er das Zitat fortsetzen will.

Doch Beate stürzt zu ihm und entwindet ihm empört das Buch, worauf er, demonstrativ weitermarschierend, mit höhnisch verzerrtem Gesicht, rhythmisch abgehackt zu brüllen beginnt: Die-LTI ... ist-einzig-darauf-ausgerichtet ... den-einzelnen-um-sein-individuelles-Wesen ... zu-bringen-ihn-als-Persönlichkeit ... zu-betäuben-ihn-zum-gedanken-und-willenlosen-Stück ... einer-in-bestimmter-Richtung-getriebenen ... und-gehetzten-Herde ... ihn-zum-Atom ... eines-rollenden ... Steinblocks-zu-machen!

Bevor ich die Tür hinter dieser Szene zuwerfen stelle ich mir meine bedenkenlos zuschlagenden Fäuste in dieser selbstgefälligen Fratze vor, blutige Fingernägelspuren, eine verbissen-wütende Racheaktion.

(Die Berliner Entscheidung, Residenz Verlag, 1984)
e.a.richter - 2012-12-09 11:39

Zu Klemperers LTI hier, hier und hier.

Teresa HzW - 2012-12-09 12:40

notiert...

Es lohnt sich, ausführlicher mit den Links zu befassen,
auf die Sie hinweisen, lieber E.A. - ich habe sie mir schon mal abgespeichert, um dies zu späterem Zeitpunkt nochmals tun zu können.

Dennoch zwei Gedanken, möchte ich Ihnen und Ihrer geneigten Leserschaft hinterlassen, die mir spontan bei einem ersten Lesen des zweiten und dritten Links ins Gedächtnis sprangen...
Teresa HzW - 2012-12-09 12:42

Zum 2. Link

Folgendes Zitat Victor Klemperers hat es in sich:
"Worte können sein wie winzige Arsendosen: sie werden unbemerkt verschluckt, sie scheinen keine Wirkung zu tun, und nach einiger Zeit ist die Giftwirkung doch da."
Als ich die weiteren Ausführungen unter diesem Link lese, kommt mir das Kommunikationsaxiom von Paul Watzlawick in den Sinn: "Man kann nicht nicht kommunizieren" - das mehr auf die nonverbale Kommunikation oder das Nicht-Gesagte zielt.

Ich frage mich, was zuerst da war: Worte, die wie Gift wirk[t]en oder Nonverbales [Verhalten], das ebenfalls "wie winzige Arsendosen" wirken kann.
Die Kombination aus beidem - Nicht-Kommunikation gepaart mit Gift-Worten - entfaltet ihre ganze ver[heer]ende[end-] Wirkung...
Teresa HzW - 2012-12-09 12:46

Zum 3. Link

Dort heißt es: "Bin ich einmal in einer Sprache aufgewachsen, dann bin ich ihr für immer verfallen, ich kann mich von dem Volk, dessen Geist in ihr lebt, auf keine Weise, durch keinen eigenen Willensakt abwenden, durch keinen fremden Befehl absondern lassen."

Samuel Beckett, ist meines Erachtens, ein gutes Beispiel dafür, dass man seiner [Mutter]Sprache eben nicht für immer "verfallen" sein muss. Er schrieb seine Stücke ja bewusst [wie ich dieser Tage erst wieder las] in der Französischen Sprache wegen der Schnörkellosigkeit, die dieser Sprache inne wohnt. Seine Sprache beruht auf einem Minimalismus und auf einer Einfachheit, die selbst heute, Jahrzehnte später, ihre Wirkung in nichts eingebüßt hat.
Im Gegenteil: Mir ist es oft so[wenn ich Aufführungen seiner Stücke besuche], als ob Beckett`s Sprache im Getöse unserer Zeit eine noch donnendere Wirkung enftaltet.
Teresa HzW - 2012-12-09 12:51

Schönen Sonntag!
Herzlichst Teresa :-)

[mail folgt noch]

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