DB-76 (27) (Während er einen Kaffee hinstellt)

Während er einen Kaffee hinstellt, erzähle ich ihm den Vorfall mit den Büchern an der Grenze, was ihm nur ein ironisches Lächeln abnötigt: Unsere Grenzen sind eben fugendicht gegen die Literatur des Klassenfeinds verschlossen!

Das erinnert ihn dann sofort an seine schmerzlichen Auseinandersetzungen mit Götz, die zu Beginn der Polen-Krise einen besonderen Höhepunkt gehabt haben müssen. Götz habe immer das Nichtvorhandensein eines kulturellen Austausches mit Polen beklagt, sagt Oskar, die Schwierigkeiten, die jemand hatte, wenn er in Polen studieren wollte. Inzwischen seien die aus der Welt geschafft, denn kein DDR-Bürger könne mehr an eine polnische Universität. Zur Vertiefung der deutsch-polnischen Animosität hätten aber auch Horrormeldungen von ganzen Eisenbahnzügen aus der UdSSR, die irgendwo unterwegs in Polen verschwunden sein sollen, beigetragen.

Aber das offenkundigste Manko ist doch der Mangel, werfe ich ein, ganz auf Stefans Linie.

Oskar nickt. Götz meine dazu leider, das ganze System gehöre geändert, ausgetauscht. Dabei verliere er aber die Abhängigkeit der DDR vom kapitalistischen Ausland völlig aus dem Auge. Zum Beispiel bei der Abnahme von Fertigwaren, etwa Werkzeugmaschinen. Begreifst du - er bleibt vor mir stehen - diese schmerzliche Schizophrenie, sich einerseits aus ideologischen Gründen eine Krise im Westen zu wünschen, andererseits aber an einer Verschärfung der Situation eigentlich nicht interessiert zu sein, in Anbetracht der Abhängigkeit von den westlichen Devisen?

Ich könnte mir eine schrittweise Abkoppelung vorstellen, antworte ich, die Linken im Westen, die noch irgendwelche Illusionen haben, erwarten sich nicht die Nachahmung des Wachstums, des Konsumismus, sondern zum Beispiel mehr Mut zu basisdemokratischen Formen.

Das sei auch die Ansicht von Götz, stimmt Oskar zu, mir Kaffee einschenkend. Er kritisiere immer, daß die Pläne zu wenig anpassungsfähig seien, die Informationswege zu lang. Daß die Käuferwünsche zu wenig berücksichtigt, Bedarfsforschung und Bedürfnisgestaltung unterschätzt, vielfach als bürgerlich oder kapitalistisch abgetan werden.

Da sehe ich Götz ganz als von westlichen Vorbildern geprägten, hier nicht genügend hoch eingeschätzten Werbegrafiker, der seine Interessen der Allgemeinheit unterschiebt, sage ich.

Oskar nickt. Obwohl sich Götz hier nicht über Auftragsmangel beklagen könne, auch nicht über mangelndes Sozialprestige. Ein anderer Aspekt, den man nicht außer acht lassen dürfe, sei die Rolle der DDR als Entwicklungshelfer der anderen RGW-Länder, die Priorität der Außenpolitik, der Zwang, sich außerhalb der RGW-Länder Devisen verdienen zu müssen. Dies habe zur Folge, daß tatsächlich ein beträchtlicher Teil der qualitativ besseren Konsumgüter dorthin, noch dazu zu Dumpingpreisen, verkauft werden müsse.

Mir kommt vor, Oskar wolle jetzt seinen Prinzipienstreit, der zugleich ein Generationenkonflikt ist, mit mir anstelle von Götz aufrollen. Als müßte er immer wieder die Verletzung durch diesen Andersdenker von neuem inszenieren. Als könnte er sich mit einem immer unzufriedenen und aufmüpfigen Kind, für das er seinen Schwiegersohn hält, einfach nicht abfinden. Soll ich hier als Verführerin zum Zug kommen, muß ich ihm recht geben und mich zugleich distanzieren. Ihn in Sicherheit wiegen und mir zugleich den Rückzug nicht verpatzen. Also grenze ich mich, um Oskar nicht zu irritieren, von der Position seines Schwiegersohns nicht ab. Es werde wohl ohne Rücksicht auf den tatsächlichen Bedarf produziert. Wegen der festen Preise sei es dem Erzeuger nicht möglich, die Konsumwünsche über den Preis zu steuern. Weil genug Geld vorhanden ist, werde das mangelnde Warenangebot zu einem dauernden Ärgernis der potentiellen Käufer. Wozu noch komme, daß der Mangel nicht alle gleich treffe. Denn Westgeldbesitzer und Großverdiener (jetzt müßte mich Oskar schuldbewußt ansehen, aber er blickt auf meine Finger, deren Nägel nicht, wie früher, lackiert sind, aber auch nicht mehr abgebissen; auch der Daumen zeigt nicht mehr die typischen Spuren zwanghaften Einschlaf-Lutschens), die seien bevorzugt.

(Die Berliner Entscheidung, Residenz Verlag, 1984)

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