DB-016 6 (Von seinem ersten Gang)

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Von seinem ersten Gang über den Alexanderplatz bringt Stefan nur einen Blick auf vielleicht dreißig in sauberer Reihe marschierende Sowjetsoldaten mit und den Text auf einer Tafel hinter der Fensterscheibe der Bahnaufsicht: Wir Eisenbahnerinnen und Eisenbahner/ des Bahnhofs Alexanderplatz/ kämpfen um die Anerkennung/ als Bereich der vorbildlichen Ordnung, Sauberkeit und Sicherheit.

In Köpenick verläßt er die S-Bahn, mit der Absicht, ganz seinem Ortsgedächtnis gehorchend, zu Fuß die Wohnung Oskars rechtzeitig vor dem Mittagessen zu erreichen. Die Volksbuchhandlung, das Warenhaus, in dem er mit Lena mehrmals eingekauft hat, die Anmeldestelle der Volkspolizei, wohin er sie drei Tage nach ihrem Kennenlernen vor zweieinhalb Jahren begleitet hat - alles scheint auf den richtigen Weg zu deuten.

Nach einigen hundert Metern müßte er die Durchzugsstraße verlassen und zweimal nach links gehen. Er würde dann auf die Rillestraße stoßen, wo Oskar wohnt. Doch Stefan findet keinen markanten Punkt, kein Gebäude, das ihm die Richtigkeit seiner Annahme bestätigt. Die Straße scheint außerdem breiter zu sein als diejenige, die er in Erinnerung hat.

Auf ein Clara-Zetkin-Studentenheim, das einen Pförtner sucht, folgen größere und kleinere Wohnhäuser, die ihn weiter verunsichern. Als dann zu beiden Seiten ein schütterer Nadelwald erscheint, tröstet sich Stefan mit der Hoffnung, daß er sich nur aus der falschen Richtung seinem Ziel annähert. Wenn er dieses Zwischenstück überwunden hat, wird das Bekannte zunehmen.

Zu seiner Beunruhigung zeigt sich niemand, den er fragen könnte. Eine einsame Fußgängerin mit Hund, nicht einmal in Rufweite. Ab und zu ein Auto, und nur ein einziges Mal eine klirrende Straßenbahn. Danach wieder eine für den späten Vormittag geradezu gespenstische Ruhe.

Nach einer langgezogenen Biegung endlich wieder Häuser. Schräg gegenüber der Endstelle des 82ers entdeckt Stefan ein Schild mit der Aufschrift Rillestraße. Erleichtert schreitet er an den Zäunen entlang, bis er bemerken muß, daß die Straße plötzlich zuende ist, ohne daß er die Nummer, die er sucht, vorfinden konnte.

Von einem Mädchen, das aus einem der Einfamilienhäuser zum Tor hin einem Ball nachläuft, will er wissen, ob denn die Rillestraße eine Fortsetzung habe. Aber das Mädchen blickt ihn entgeistert an und trollt sich schnell zum Haus zurück, ohne den Ball aufgenommen zu haben. Stefan wiederholt seine Frage mit lauter Stimme, worauf das Mädchen, sich halb umdrehend, zwischen den Lippen hervorpreßt, das sei die ganze, und sich dann sofort hinter der Eingangstür verdrückt.

Stefan hat nur eine einzige plausible Erklärung: Es gibt eine zweite Rillestraße. Trotz der Blamage beschließt er, Oskar anzurufen, bei dem Lena ja schon angekommen sein müßte. Auf der gegenüberliegenden Seite der Straße beladen zwei Männer einen Kombi. Aber sie können Stefans Markstück nicht wechseln. Einer hält Stefan eine 20-Pfennig-Münze hin und meint, mit einem Seitenblick auf den westlichen Steppmantel, das sei ein Geschenk eines hiesigen Werktätigen im Dienst der Völkerverständigung. Er grinst dabei, sein Kollege versetzt ihm einen Klaps gegen die Schulter.

(Die Berliner Entscheidung, Residenz Verlag, 1984)
e.a.richter - 2012-11-03 17:51

Zu „Clara-Zetkin-Studentenheim“ siehe auch:

„Das Studentenwohnheim Clara Zetkin lag weniger als zehn Minuten zu Fuß von der Haltestelle entfernt. Sie waren mit der S-Bahn gefahren, hatten eine der farblosesten Stadtlandschaften durchquert, die Ronny je gesehen hatte. Grau, grau, nackte Flächen, Fenster ohne eine Blume, alte Bauten, wo ab und zu die Spuren von Maschinengewehrkugeln des Krieges wie Pockennarben im Verputz zu sehen waren. Alles, absolut alles wirkte verschlissen, verbraucht, rostig und verfallen. Die Menschen, die er sah – auch sie freudlos. Kein Lächeln, nur stummes Starren. Ronny Olsen fühlte sich wie in einen Aufklärungsfilm über die Gefahren des Kommunismus versetzt ... Ronny wünschte sich westliche Dekadenz, idiotische Reklameplakate für Zahnpasta und Damenbinden, verlogene Informationen über jede Menge Scheißprodukte ...“ (aus: Ingvar Ambjørnsen, Stalins Augen, Edition Nautilus, 1989; 260 S.)

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