O-18 SILVESTERPFAD

unter Essenden nichts gegessen;
nichts getrunken unter allen,
die tranken: Ausschenkenden,
Tanzenden mit ihren riesigen
Silbermaschen, Zweitausenderhüten,
rotblinkenden Plastikfühlern.
Sie kamen von allen Seiten.
Ließ sie vorbei,
beäugte sie von den Ecken her,
aus Nebenstraßen,
über Denkmalbrüstungen,
Müllcontainer hinweg.

Nur einer ließ mich stillstehn:
der Feuerjongleur.
Zauberte Feuer um seinen Körper,
erforschte es dabei,
ließ es lang leben:
auf dem Kopf,
in den Achselhöhlen,
zwischen den Beinen.

Dann wandte ich mich ab,
sah nur eine einzige Verlockung
hinter Fensterscheiben:
auf einem Plakat Frauen mit Flügeln,
in Unterwäsche,
übermannt von wintergrünen Schatten.

Und am Ende der Straße,
unter Neonschriften,
ihre unwillkürliche Vermehrung -
Schaufensterpuppen,
in Reih und Glied auf dem Rücken,
die Beine nach oben gespreizt,
in den Knien abgewinkelt,
als würden sie tanzen:
erhoben sich nicht,
demolierten keine Scheiben,
stimmten keinen Chor an,
versammelten sich nicht zum Reigen:
ließen mich laufen,
ins nächste Jahr

(Sonntag, 2.1.2000, 6.35 Uhr)

(Erschienen in: Obachter, Edition Korrespondenzen, 2007)
candida - 2012-01-15 20:37

etwas spät dran, mein lieber!

e.a.richter - 2012-01-15 21:26

Ja, fast genau 12 Jahre. Bedauerlicherweise ist seit damals die City am Silvesterabend tabu.
Iris2002 - 2012-01-15 22:32

Warum

tabu???

e.a.richter - 2012-01-16 04:43

Weil dort 500 bis 700.000 Menschen anzutreffen sind, was mir an sich keine Angst machen würde, wahrscheinlich sogar Lust. Aber die verwenden völlig unkontrolliert "pyrotechnische Gegenstände", die schon einmal meine Ohren verletzt hatten trotz der Ohrenstöpsel. Dieses Mal war die Pyrotechnik harmlos, da aus einer gewissen Entfernung zu beobachten. Wie bei dir?
candida - 2012-01-16 07:30

"und ließen mich laufen". was haben sie denn angestellt, mein lieber?

e.a.richter - 2012-01-16 17:22

Puppen



(31.12.1999)
e.a.richter - 2012-01-16 21:19

Ein bißchen Punsch auf Wunsch (für C.)



(31.12.1999)
candida - 2012-01-17 07:34

habs eingesehen, mit solchen puppen tanzt man nicht ins neue jahr hinein. da entspannt man sich lieber beim punsch.
ps: wissen sie übrigens, daß polaroidkameras wieder zu haben sind, kosten ca. 70,-. für den nächsten silvester...
e.a.richter - 2012-01-17 19:51

Der wirkliche Wendepunkt

Noch eine Anmerkung zum Thema Jahreswechsel, für Sie, C.
Für mich persönlich spielt der Jahreswechsel, so wie er üblicherweise praktiziert wird, keine besondere Rolle. Daß ein Jahr endet, ein neues beginnt, ist natürlich dramatisch und daher feierungswürdig. Aber gerade am 31.12. oder am 1.1. ist mir das gewöhnlich gar nicht so bewußt. Das ist ja keine persönliche Markierung, sondern eine traditionelle, kalendermäßige. Wann das neue Jahr wirklich beginnt, ist außerdem kultur- und religionsabhängig.
An den hiesigen Begrüßungsbräuchen und –feiern hatte ich nicht einmal als Kind bzw. Jugendlicher großen Spaß. Wenn es in der Ballsaisaon irgendwo einen Neujahrsball gab, war das eben einer unter vielen und da machte ich eben auch da mit.
In den letzten Jahren, vielleicht schon seit Beginn dieses Jahrzehnts bzw. Jahrhunderts hat sich jedoch etwas jetzt herauskristallisiert, was dir vielleicht seltsam oder bizarr erscheinen mag: wo mein ganz persönlicher Wendepunkt in einem neuen Jahr liegt, der Zeitpunkt, bis zu dem ich noch hoffnungsfroh, aktiv, freudig etc. in die Zukunft blicken kann. Danach muß ich immer daran denken: ich sitze in einer Rutsche, es geht schon wieder bergab.
Das Seltsame: ein ähnliches, keineswegs so dramatisches Gefühl hatte ich zu Zeiten, da ich einen regelmäßigen Job hatte, und wo es darum, die Woche gefühlsmäßig einzuteilen. Da war der Mittwoch der Wendepunkt. Ich erlebte also den Wochenablauf in der Regel als eine Art Aufstieg bis zum Mittwoch und Abstieg bis zum Freitag, natürlich nicht negativ besetzt, denn das begehrte Ziel dieser Zickzackbewegung war ja das Wochenende.
Im Ablauf meines jetziges gefühlsmäßigen Jahres gibt keine Wochenende als wirkliche Höhepunkte, sondern nur diesen einen Drehpunkt am letzten Tag des Februars. Bis 28. – heuer 29. – Februars denke ich nicht an Verlust: den Verlust an Tagen, Jahren, Gelegenheiten, Chancen, Erfahrungen. Schlagartig jedoch fangen am 1. März die Bedenken an, auch Trauer, eine gewisse Hast, ein Zwang, den Rest des Jahres richtig einzuteilen, die nötigen Höhepunkte schon im voraus zu planen etc.
Warum das alles? Der Frühling ist schön, aber schnell verflogen; am 21. Juni werden die Tage schon wieder kürzer, der Sommer umfaßt nur 2 Monate, die im Nu um sind, der Herbst ist ein Vorspiel des Winters und verweist immer dramatischer auf den letzten Dezembertag.
Daher ist der 28. Februar für mich der einzige Festtag im Jahr, wo ich mich glücklich an der Kippe befinde, den ich – wenn möglich – in einem feierlichen Akt so lang als möglich ausdehnen würde.
PS: Danke für den Hinweis, aber Polaroids würde ich nicht wieder beleben wollen. Zu sehr verbinde ich sie mit den 70er und 80er Jahren.
Iris2002 - 2012-01-18 20:11

Wendepunkt

ist der 1. Jänner ja nicht unbedingt - was soll/kann/wird sich wenden? Auf den Frühling warte ich vom ersten Moment des neuen Jahres an - das Längerwerden des Tages wird fast ängstlich beobachtet - ob es wohl wirklich wahr ist, dass die kürzesten Nächte vorbei sind. Wenn einmal die Strukturierung des Jahres nicht mehr durch den Arbeitsrhythmus (vorgegebene Ferien) erfolgen wird, stelle ich mir vor, den Frühling und Frühsommer mehr genießen zu können. Derzeit beginnt ja bereits wieder der Tag kürzer zu werden, wenn die 'freie Zeit' anfängt... ein alljährliches Frusterlebnis....
So viel zu den Anmerkungen zum Jahreswechsel, wenn auch an C gerichtet, doch von mir kommentiert ;)

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