0059 - IM SPIEGEL

6...5...4...3...2...1... während der vorbereitungen kam es zu keinen zwischenfällen. während die hüllen fielen, die maske heruntergerissen wurde, war alles still. unter der dicken farbe konnte zuerst nichts entdeckt werden, kein gesicht, keine larve, kein antlitz. mit viel mühe und liebe hatte sie sich zurechtgemacht, wie sie sagte, hatte farben gekauft, stoffe, die passenden farben/stoffe, hatte die vorbilder studiert, von oben nach unten von links nach rechts, hatte sie umgedreht, umgeblättert, hatte versucht, die hinterseite der vorbilder zu entziffern, mit viel mühe and liebe, wie sie sagte, und jetzt war sie vor dem spiegel gesessen mit rasch wechselnden eindrücken von sich selbst, der familie, dem haus, der gesellschaft, der radio- und fernsehgesellschaft mit den rasch wechselnden blitzen, blitzängsten, blitzaufheiterungen, blitzfreuden, blitzersatzfreuden, blitzbestätigungen usw., war gesessen mit höchst unklarem kopf (3...4...5...2...1...), etwas völlig verwischtes im spiegel sehend, angelaufen von ihrem eigenen atem, weil sie ihm zu nahe kam, kommen mußte, ohne ihn jedoch abzuwischen, ohne daran zu denken. sie hatte einen augenblick den eindruck eines dampfenden saals, sie fühlte sich sicher, sie hatte die farben sorgsam gewählt. der tänzer war ihrem gesicht zu nahe gekommen, er hatte gar keine annäherung im sinn, er begann zu sprechen. während die motoren aufheulten, wurde zum letzten mal alles überprüft. die ingenieure zitterten, obwohl sie männer waren, die frauen der ingenieure zitterten und dachten an das zittern ihrer männer. plötzlich bedeckten alle die augen, es gibt ein foto davon: sie hoben die flachen, gestreckten hände an die augenbrauen, reckten die hälse, bogen die köpfe auf den gereckten hälsen in den nacken. plötzlich blickten alle in die luft, der ganze saal, die leute auf den bänken, die leute hinter den tischen, die leute auf der tanzfläche, das fernsepublium, alle reckten die hälse, bogen die köpfe in den nacken, rissen augen und münder auf und blickten hinauf. von oben kam aber nichts herab, nur die reflektierten blitze der fotografen. die fotografen waren schnell zufrieden, waren bald mit ihren geräten auf und davon. draußen war es so kalt, daß sich bei einer bestimmten geschwindigkeit reif am vergaser bilden konnte, der natürlich die kraft des motors dementsprechend drosselte. die reflexe der reflexe der blitzlichter draußen im schnee: die zeit ist anscheinend stehengeblieben. der meister mit dem breitgedrückten schädel und der ungeputzten brille hatte das mit dem reif gesagt, der im taubenblauen mantel, während ich ihm gegenüberstand, getrennt durch eine art theke. wir sind erst umgezogen. die ordner stapelten sich auf dem boden im linken blickwinkel, neben die mädchendame mit dem interessanten akzent (und der schlechten frisur trotz der schönen haare) und der fischäugigen mit dem flotten pulli und der flotten hose, während ich den meister fast unsicher anblickte, hier im büro ihm gegenüber, alles wörter einer fachsprache, fast einer fremdsprache, obwohl bildhaft, nicht bildlich. der tänzer mit dem leicht einknickenden gang, mit seiner scheu vorm tanzen, also eigentlich nichttänzer, therapietänzer, nimmt den spruch des psychotherapeuten vorweg. jedes mal, wenn sie von dr. straka kommt, wenn sie also wieder zurückfindet in ihr verrauchtes doppelbettzimmer mit ihren kinderwünschen an den wänden, durch die kälte zurückfindet durch das kalte dunkle vorzimmer an der offenen kalten klotür vorbei, jedes mal bleibt die tür offen oder bleibt zumindest der schlüssel stecken, an dem ein ganzer schlüsselbund hängt mit seinem schlüsseltäschchen. am schlüsseltäschchen sind die schlüssel für das haus, für die wohnungstür links und die wohnungstür rechts. der tänzer hatte nichts von schlüsseln gesagt, nicht daß ich wüsste. nicht so schüchtern war der mann in nöten, von dem sie sagte: da ist ein mann plötzlich vor mir gestanden, und als der schlüssel schon im haustor steckte, aber noch nicht umgedreht war, hatte sie gesagt, hat der auch endlich von mir, meinem arm abgelassen, war beinahe zusammengesackt vor erschöpfung, erleichterung, hatte sie gesagt, also ein mann in nöten, hatte sie gesagt, im nachhinein könnte man sogar so etwas wie verständnis aufbringen, im nachhinein könnte man sogar bei irgendeiner gelegenheit seine hand, seine schmutzige, die er damals beschmutzt aus dem hosensack, hatte sie gesagt, vielleicht sogar zu ihrem tänzer oder zu ihrem verwischten gesicht im spiegel. jetzt wischte sie den hauch vom spiegel, mit der versuchung, mit den fingern, gespreizten fünf fingern strichmännchen, gleich fünf, nebeneinander zu zeichnen, in einem zug. jetzt waren die vorbereitungen also schon vorbei, der große augenblick schon vorbei, es war im augenblick leere. das gesicht des tänzers war neben dem eigenen, noch immer verwischten, nicht zu rekonstruieren. neben ihr der raum im spiegel blieb ein unendlicher, unendlich leerer spiegelraum, flachraum neben ihrem nichtgesicht, ihrer nichtlarve, ihrem nichtantlitz. auch ihre farben hatten jetzt nichts mehr zu sagen. sie nahm die verschiedenen tuben, tiegel, döschen und rückte sie in die leere des spiegels. der taubenblaue meister, die mädchendame, die fischäugige, dr. straka. dr. straka hielt die hände in den hosentaschen verborgen, es war eine spannung im raum, hatte sie gesagt, im raum zwischen mir und dr. straka und dem nichttänzer/therapietänzer, ein gespannter seh-, hör- und riechraum, tastraum zwischen uns dreien. ein einfaches dreieck a hoch 2 plus b hoch 2 ist gleich c hoch 2. ein einfacher raum, siehe-oben-raum, aber doch auch luftraum mit drei menschen als kanten, ein dreidimensionales atmendes dreieck. wie dieses dreieck in ihrem traum zu torkeln begann, wie es sich drehte, umkippte, hinundhersauste, wie es aus der form sprang, andere formen annahm, vierdimensionale und noch andere: das alles erzählte sie dr. straka. auch über den start der rakete (6), über würfelaugen (5), säulenhandkanten (4), windrosen, windsbräute (3), murmeltierstimmen (2), gespitzte ohren (1), über die weckhand (0), die sie zum aufwachen zwang (00). und was der schlüssel am morgen, wenn er noch im schloß steckt, zu bedeuten hat. und was es heißt, wenn er noch am haken hängt. und was die angst zu bedeuten hat, daß einer nachts reingreift, wie man selbst einmal reingriff am türfenster, mit großer anstrengung unter extremer armverbiegung. und schließlich leder, das leder, das weiche leder des schlüsseltäschchens. und klimpern, helles klimpern, schlüsselgeklimper in der dunklen kälte. jetzt war alles still.

(Donnerstag, 15.1.1970)

(Blick ins Nebenzimmer: Essere etrusco 02)

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