F-09 MICHIS BLUT
als der Wärter die Tür öffnet, bleibt er verschwunden,
bis ich sein halbes Gesicht hinterm Ofen entdeck und er kreischend
hervorstürzt. Er weiß unsere Namen nicht mehr, will sofort
ins Auto, mit dem Auto in die Stadt, zu den Geschäften.
Vor den Auslagen hälts ihn nur kurz: Colts, Panzer,
eine Cowboyausrüstung wie die, die ihm einer verbrannt hat;
ein heftiger Schmatz durchs Glas auf die Schnauze des Bären, weiter,
weiter, trotz der Magenschmerzen vom vielen Cola
aus dem Automaten im Durchgang, runter zur Donau,
vorbei an den Schrebergartenhäuschen auf Stelzen - im Spaß
springen wir sofort ins eisige Wasser, und Michi spielt Retter,
eine Sekunde, dann packt ihn das Mitleid mit einem treibenden
Holzstück, bis ihn ein winziger Hund zurückscheucht.
Die Schläge der Pfleger, sagt er; er schlägt mit den Fäusten
zurück, sagt er; die haben vor ihm Angst, die sind krank,
alle sind sie krank. Er fällt mich an, ohne Übergang,
beißt mich in den Hals, schmust mich heftig ab. Plötzlich
hat er Hunger. Im Wirtshaus die gestohlenen Comics, Tarzan
und Donald, er blättert schnell, Analphabet, trotz der zwei Jahre
Schule, zack puff. Er entdeckt die Kellnerin, verfolgt sie,
zack puff, reißt den Fotoapparat an sich, knipst sie
ins verlegen lachende Gesicht, mehrmals. Als das Essen kommt,
ist der Appetit fast weg. Nach einigen Bissen stürzt Michi zur Tür,
raus auf den Platz, stürzt sofort wieder rein, wegen der Totenstille:
die spinnen, du spinnst. Noch im alten Jahr, sagt er,
wütet der Dinosaurier, trotz der Schlaftabletten im Mund
zertritt er Häuser, Fabriken, Autos, Menschen
auf der Flucht, und überall ist Blut auf den Straßen, Michis
Blut, vorgestern abend im Fernseher.
Und der Neue Mensch wartet, ein ganz anderer,
schön wie ein Ei, ohne irgendein Folterwerkzeug
hinterm Rücken, ohne Mordgedanken, ganz Freundschaft und Liebe,
der wartet im doppelt versperrten Keller oder
in einem der kahlen Bäume unter der Rinde,
der wartet aufs Losungswort, zack puff,
jetzt spinn aber ich. Dann tritt die Anstalt
wieder ins Blickfeld, wir sitzen im Patientencafé,
und Michi, das einzige Kind, hantiert mit der Kamera,
schleicht sich auf allen Vieren an ein zahnlos
turtelndes Paar ran, zwingt die bleiche Blonde
grinsend zum Rockhochheben, kriegt den Traktatleser
mit Bart ins Visier, den Dicken im Nadelstreif,
aber ohne Zigarre: er tut, als wär kein Film drin,
als wär Fotografieren ein Verbrechen, auch
vor der staubigen Krippe hinterm Christbaum,
vor den Disneyfiguren über der Hobelbank.
Wieder mit uns vor der grifflosen Tür, sagt er, er will
nicht weg aus dem Männerhaus, nicht weg
aus dem Zimmer mit den zehn Betten, nicht
zu den fünfzehn Michis ins Heim -
die bringt er alle gleich um am ersten Tag,
und nicht mit dem Messer: er drückt
ihnen einfach die Luft ab.
(1981)
(Erschienen in: Friede den Männern, Residenz Verlag, 1982)
(Blick ins Nebenzimmer: Essere etrusco 12)
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