E-02 TRESOR
ein Tresor? (Tres Ohr?) Ist dieses Sirren, das so nah
der Sprache erscheint, ein Dauerton, ganz aus der atmenden
Nähe, auch aus der Sternenferne, Widerhall von Lichtjahren,
die nie aufhören würden, sich zu äußern, auch ohne offenes
Ohr? Achja, offen, ohne geöffnet zu sein, schreiben, ohne
geschrieben zu werden, sehen ohne Sicht und doch Durchblick?
Ein Frühling, der hinterm linken Ohr hinweht. Es ist auch ein Wehen
am Bildschirm, schwankende Helligkeiten inmitten schimmernder
Schwärze – schwarzer Monitor, der zweite, dritte, und darauf
ein schlaffes Blatt, das sich nie erheben würde, wenn nicht
ein Pfauchen aus mir herausbräche, künstliche, sehr gesteuerte
(beteuerte) Wut. Gestern Wut, heute keinerlei Reue. Ruhe.
Nach dem morgendlichen Aufbruch des Personals tagsüber Ruhe.
Das Personal ruht auswärts. Das Licht zuckt über die schwarze
gerahmte Fläche – nur Reflexion von Papierhaufen hinterm Rücken.
Rücken und Nacken gestreckt, steife Selbstbewahrungshaltung.
So der Schmerz (und ein solcher auch direkt hinterm Ohr) beinahe
wie ausgeschaltet, weggesperrt in ein anderes Zimmer, achja,
dort unter dem Bett, der fraglichen Wand rechts, die nie fragt,
sondern starrt voller altmexikanischer Vorausahnungen.
Jetzt Pause, auch aus dem Magen, mit herausragender Sonde
hin zum linken Ohr – wer wagt es, mir deshalb Linkshändigkeit
zuzuschreiben? Ich selbst erfand sie mir unlängst, ohne Not.
Ich sei Linkshänder gewesen, gewalttätig umgeschult.
Sah mich als Schüler, dem das Ohr zornig wuchs in der Hand
des Lehrers, der es wusch und salbte, auch Stirn, Nase und Wangen.
Zu welchem Zweck? Solch ein Lehrer kommt aus dem Tresor der Zeit,
die zugleich so unwahrscheinlich zusammengepreßt unterm Stuhl lauert.
Der Stuhl (sonst das Allerlauteste im Raum) schweigt. In der kleinsten
Bewegung die Möglichkeit, daß alles auf einmal abblättert und
ich mich hinausstürzen muß bei der Tür in die Natur voller Herzweh
(Freitag, 13.05.2011, 15:37 Uhr)
(Fundstelle: http://www.aleatorik.eu/2010/11/30/%E2%80%9Edie-ganze-zeit%E2%80%9C-wenn-ein-text-ein-tresor-ist/)
(Blick ins Nebenzimmer: Essere etrusco 15)
Das dritte Ohr hört und schließt ein. In der Hand. Die Zeit, den Raum, den Schmerz. Nicht Reue oder Einsicht. Durchlässig für das, was aus der Tiefe nach oben strebt, öffnet das Ohr die Tür zum geheimen Zimmer, lässt es zu, gibt sich hin, schreibt nieder und schweigt.
Wir sinken in dieses unüberhörbare Schweigen, mein drittes Ohr und ich, bis uns die Luft knapp wird und die Schreibhand uns rettend emporzieht, indem sie niederschreibt. Kein Formwille, keine Schönheit treibt sie an. Nichts, als reine Notwendigkeit.