O-12 GROSSELTERNNACHBLICK

beschloß, mir zu widersagen, dem Teufel,
vor dem Foto des Großvaters; widerstand nicht,
es zu öffnen, Monitorleben, mit Zugaben von Rot, Gelb,
Intensität, Helligkeit und Kontrast: lächelt jetzt,
bild ich mir ein, unter seiner wassergescheitelten Haarfülle
brav und verbindlich zu mir herauf, fest
in sich ruhend, sprechbereit. Weiß ich den Satz?
Hör ich die Stimme? Würd ich ihn gleich wieder
duzen über die lange Zeit nach seinem Tod hinweg?

Nahm den Taschenspiegel, teilte sein Gesicht
in zwei Hälften: links das Gewicht der Jahre,
deren Enttäuschung, das die Mundwinkel lockert,
zugleich ihren Widerstandswillen artikuliert; rechts
der Schmerz über jeden Verlust, den vergangenen,
den, der kommen wird unweigerlich; hinter den
fleischigen Wangen wachsam errichtete Ohren:
Könnte er mich hören, mit welchem Laut sollte
ich anfangen? Würd er nur Pfeifen und Brüllen
vernehmen, brüllenden Enkel, pfeifenden Luftikus?

Über dem zugeknöpften Gilet der abgetragene,
keineswegs pedantisch gereinigte Rock. Darüber
das massige Haupt, ein wenig nach rechts geneigt, auch dem,
der ihn fotografiert, scheinbar wohlwollend entgegen.
Neben ihm der Spalt zu seiner Frau schließt sich
im Dunkel über dem Boden. Großmutters schmaler
verkrümmter Leib unter einem losen schwarzen Kleid;
darüber, ganz locker, die unermüdlich getragene Weste,
die mit dem Karomuster; und um den Kopf gugelartig
ein Tuch, das ihr Gesicht noch kränker, ganz
ausgezehrt erscheinen läßt. Haarreste zu beiden
Seiten, Hexenborsten. Wird sie sich halten?
Droht sie noch immer mit ihrem Tod?

Durchdringend ihr linkes Auge, das rechte in sich
versunken, an allen Schmerzorten gleichzeitig.
Ihr nie enthüllter Oberkörper, mittels linkem Ellen-
bogen auf dem Eßtisch abgestützt. Die rechte
Hand über die Kante hängend, nicht offen, nicht
willenlos verkrampft. Beschloß, dieses Foto verkehrt
unter die Bücher zu schieben. Las dann ein Whitman-Gedicht
in Kabbala und Tango. Hatte das Buch vorsorglich
zwischen vielen anderen hervorgezogen, zufällig dieses.
Schlug es irgendwo auf. Fühlte mich noch immer von Fragen,
unausgesprochenen, an die beiden Toten bedrängt,
vom Wunsch nach ihrem wärmenden Fleisch

(Dienstag, 4.1.2000)(21.50 Uhr)

(Blick ins Nebenzimmer: Campo di urne 03)
e.a.richter - 2011-06-01 11:40

Ich las damals manchmal in: Jorge L. Borges, Kabbala und Tango, Essays 1930-1932. Evaristo Carriego. Diskussionen. Fischer Taschenbücher Bd.10578.

e.a.richter - 2011-06-01 12:45

"After World War I the Borges family lived in Spain , where he was a member of avant-garde Ultraist literary group. His first poem, Hymn to the Sea, written in the style of Walt Whitman, was published in the magazine Grecia."

e.a.richter - 2011-06-01 14:07

When I Read the Book

by Walt Whitman (1819-1892)

When I read the book, the biography famous,
And is this then (said I) what the author calls a man's life?
And so will some one when I am dead and gone write my life?
(As if any man really knew aught of my life,
Why even I myself I often think know little or nothing of my real life,
Only a few hints, a few diffused faint clews and indirections
I seek for my own use to trace out here.)

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