O-20 JT

müßte ja mit unrechten Dingen zugehn,
wenn dein Blick wiederkehrte, dein Schnipsen
über den gierig schnappenden Karpfen-
mündern unter der Brücke, inmitten von

Möwen, Krähen und darunter kein
gewöhnlicher Teich, sondern Rußland,
Astrachan, das Kaspische Meer,
so blau wie ausgedruckt. Konsomolzin,

Caritas-Helferin, die du warst auf Geheiß des Bruders:
verschwindest hinter Glasscheiben
hast schon Sätze, die neuesten,
für deine Eltern, die täglich zurückschreiben:

du antwortest prompt, gewissenhaft, tanzt
den Reigen deiner Unsicherheitsskrupel
bravourös, lädst dich schon auf,
während wir noch durch den Donaupark streifen,

geblendet vom falschen Frühling, der künftigen
Moral der Geschichte, die uns schon jetzt
bedrängt als Stufenleiter falscher Entscheidungen.
Sinkst mit dem Kopf auf dein Buch, öffnest

die Augen mit trübem Blick, ohne den Traum
zu verraten vom Mann, der schnell die Tafel löscht,
sich aber umdreht ohne seinen Text,
dich brenntraurig anstarrt:

schlägst Kapital daraus, auch aus meiner
hoffnungsvollen Anwesenheit, die vielleicht
eine ganz andere meint, keine Spielerin,
keine Rubel-Flüchtige, die ihr Kind zurückläßt,

auch keine, die von überall aufgelesenen
Ermunterungen lebt zu Schritten nach vorn:
Du weichst nicht zurück, widerstehst
dem zärtlichen Blick deines Bewachers,

jedweder konjunktivischer Tätigkeit
hinter meinem Horizont: bleibst in Trance
die mich einlullt, als wär ich der Gelähmte,
den du in seine Badewanne hochhievst allmorgendlich

(Montag, 7.02.2000, 0.30 Uhr)

(Erschienen in: Obachter, Edition Korrespondenzen, 2007.)
candida - 2012-01-19 18:20

das wasser "abschlagen" - männer!;-)

Iris2002 - 2012-01-19 18:55

Genau!

Hab ich mir auch gedacht... ;)
e.a.richter - 2012-01-19 19:47

Obwohl hier Wasser mehrfach vorhanden, wird keines "abgeschlagen"! Weiter unten schon.
Sturznest - 2012-01-19 18:22

ich hab ein büchlein aus diesem wunderbaren verlag..da sind sie auch drin

e.a.richter - 2012-01-20 14:45

Welches denn?
Sturznest - 2012-01-20 14:56

Korrespondenzen

Zugaben



in einem feinen Verlag sind Sie zuhause, da wäre
ich auch gerne, aber ich bin zu deppert dazu
e.a.richter - 2012-01-20 15:04

Das hab ich jetzt nicht gelesen! Haben Sie denn schon einmal etwas dorthin geschickt?

PS: Gemeint war:

Hammerbacher, Ziegler (Hg.), Korrespondenzen. Die ersten 10 Jahre. Zugaben, ca. 160 Seiten, Broschur, fadengeheftet
ISBN 978-3-902113-89-4

Darin steht ein feines Gedicht von Ilse Aichinger, die vorigen November ihren 90. Geburtstag feierte:

PFANDLEIHE

Judas, Herodes,
achtundzwanzig und
zwei mal sechs
unschuldige Kinder,
zwei Vipern,
zwei Grashüpfer,
auch Heuschrecken genannt,
ein unruhiger Geist
aus dem Magen
einer beliebigen Sau
im See Genezareth,
ein halber Wackerstein
aus dem zerfetzten Wolfsschlund
im Brunnen, um den die Geißlein tanzen:
Wenn die mich zu meinen Liebsten holen,
bin ich zufrieden.
Sturznest - 2012-01-20 15:15

und das büchlein kostet nur 5 Euro...
Ja habe ich, habe ich Ihnen doch schon erzählt, ich hab es mit all den Korrekturvorschlägen hingeschickt, die mir eine freundliche Dame gemacht hat..So etwas deppertes...
und jetzt hab ich einen hübschen Unsichtbaren Roman den ich trotzdem sehen kann und niemand will ihn haben....
ach ach ach :-)
e.a.richter - 2012-01-20 16:23

Ich meinte: noch einmal danach? Bzw. was hat man Ihnen eantwortet? Und wann war das denn?
PS: Im übrigen finde ichs gar nicht "deppert", daß Sie die Fr. Berg einbezogen haben.
Sturznest - 2012-01-20 17:21

herrje, ich liebe Ilse Aichinger
e.a.richter - 2012-01-20 14:47

Richtig leben

Ein Fundstück, das hierher zu passen scheint:

„Lieber Sascha!
Als ich 17 Jahre alt war, wollte ich auch nicht lernen. Ich habe meine Hausübungen nicht gemacht, ich habe oft meine Vorlesungen geschwänzt. Ich konnte ganze Tage mit Freunden im Café sitzen, ich konnte sogar einen Prüfungstermin verstreichen lassen, weil mich das nicht interessierte. So war es in der Schule, und so war es auch zwei Jahre lang an der Universitaet. Aber einmal am Morgen bin ich von selbst draufgekommen, dass ich ein unrichtiges Leben fuehre. Ich habe verstanden, dass mein Leben nur fuer mich wichtig ist, dass meine Jugend verschleudert wird, die Jahre weggehen und ich sie nie wieder zurueckholen kann. Ich habe eine Entscheidung getroffen: Ich werde mich um 180 Grad ändern! Ich werde fleissig lernen, oefter die Bibliothek besuchen usw. Ich habe sogar Nachhilfestunden genommen, weil ich gewusst habe, dass ich viele Loecher in meinem Kopf habe. Mir fiel alles sehr schwer, weil so viel Zeit verloren worden war. Aber ich habe mich sehr bemueht.
Mein Leben hat dann einen anderen Sinn bekommen. Alle meine Freunde haben mich mehr geachtet. Mehrere neue Freundschaften wurden beendet, viele andere Interessen wurden fal-len gelassen. Mehrere Freunde habe ich natuerlich verloren, weil sie immer im Café sitzen geblieben sind. Aber ich bedauere das nicht.
Jetzt wohne ich in einem anderen Land und habe ein interessantes Leben, während sie noch immer dort sitzen. Zieh deine eigenen Schlüsse daraus! Wir leben nur einmal; und wir haben kein Recht, unsere Zeit zu vergeuden."

SehnsuchtistmeineFarbe - 2012-01-20 16:29

wow!

Weberin - 2012-01-20 20:25

Das Fundstück irritiert mich, ich frage mich schon seit geraumer Zeit, warum diese Worte, die da groß geschrieben sind, bloß groß geschrieben sind.
Andererseits habe ich gar keine Lust, mich mit einem solchen Text zu beschäftigen, wenn doch dort oben dieses Gedicht steht, das mich erreicht. Dieser Tanz durch den Reigen der Unsicherheitsskrupel, der letztendlich die Grenzen verwischt, zwischen der, die scheinbar fremdbestimmt lebt und dem, der das (scheinbar) erkennt, sich aber gleichzeitig davon einlullen lässt.
e.a.richter - 2012-01-21 02:30

Im Fundstück sind die groß geschriebenen Wörter rot geschrieben, um zu zeigen, daß da etwas korrigiert wurde. Hier erscheint das tatsächlich irritierend, tut es ab jetzt nicht mehr. Anscheinend geht es um jemanden, der gerade Deutsch lernt. Ich habe es in einem längeren Text verwendet, in dem eine junge Russin versucht, den Aufenthalt in einem EU-Land als Sprungbrett für einen Studienplatz in den USA zu benützen.
Was das Gedicht betrifft, so haben Sie den Nagel auf den Kopf getroffen. ;-)
Iris2002 - 2012-01-21 09:41

Ist das jetzt

ein Rekord? 14 Kommentare? dann könnte man ja feiern (bin schon gespannt, welche *Anti-Feier-weil-ja-Gedankenaustausch-kein-Feiergrund-kommentare* jetzt kommen - dann sind's noch mehr Kommentare und wir haben einen noch höheren Rekord.... ;)
Man sieht schon - es handelt sich hier um einen höchst oberflächlichen Kommentar - also gilt er vielleicht gar nicht als Kommentar??? Kommentardefinition scheint angesagt...

e.a.richter - 2012-01-22 11:34

Texte und Kommentare

Richtig, es ginge um einen Gedankenaustausch, dem aber in diesem Rahmen einiges entgegenstünde.

"Ich mag Texte und Kommentare, die nicht abschließend, sondern aufschließend formuliert sind und bleibe paradoxerweise selbst oft stumm, weil mir meine Gedanken zu unfertig scheinen ..." schrieb Iris hier.

Und darunter Melusine: „Wenn ich nicht zu faul bin oder keine Zeit habe oder grad keinen rechten Ausdruck finde, lobe ich skrupellos und ohne jede Hemmung, was mir gefällt. Warum denn nicht? Diese Furcht vorm Loben und Gelobtwerden - das finde ich seltsam verschwurbelt.
Viel schwieriger ist doch Kritik und Missfallen. Das hat keine/r so gern, zumindest zunächst. Da kommt ein Gefühl der Fremdheit und des Unverstandenseins auf (auch zwischen den Rezipienten, übrigens). Das kann aber auch sehr fruchtbar sein. Oder verletztend. Je nach dem. Man kann da auf Schongang setzen. Immer schön pädagogisch.“

Das zeigt die Schwierigkeiten und Grenzen des Kommentieren in einem Blog: setzt man sich ernsthaft auseinder, muß man Zeit investieren und Mißverständnisse in Kauf nehmen. Bleibt man an der Oberfläche, ist ein Kommentar eben nur eine Spur von flüchtiger Anwesenheit.
e.a.richter - 2012-01-22 14:59

Der wahre Leser

Und zum „wahren Leser“ ein Novalis Zitat, das bei Zeitnetz steht:

„125. Der wahre Leser muß der erweiterte Autor sein. Er ist die höhere Instanz, die die Sache von der niedern schon vorgearbeitet erhält. Das Gefühl vermittelst dessen der Autor die Materialien seiner Schrift geschieden hat, scheidet beim Lesen wieder das Rohe und das Gebildete des Buchs - und wenn der Leser das Buch nach seiner Idee bearbeiten würde, so würde ein zweiter Leser noch mehr läutern, und so wird dadurch, daß die bearbeitete Masse immer wieder in frischtätige Gefäße kommt, die Masse endlich wesentlicher Bestandteil - Glied wirksamen Geistes.“

Iris2002 - 2012-01-23 17:46

Wenn man's genau nimmt...

...müsste also der zweite Leser das Buch vom ersten Leser (bearbeitet - erweitert - geläutert) übertragen bekommen usw.- wie kommt die (selbe) Masse in immer wieder frischtätige Gefäße? Oder ist es nicht vielmehr so, dass es nicht "ein Buch" sondern so viele Bücher wie Leser gibt - jeder 'schafft' sein eigenes Leseerlebnis, je nach background/Alter/Wissensstand/Willen, sich einzulassen etc. etc.......
Ich bin sogar überzeugt, dass ein Leser mit einem Buch verschiedene Leseerlebnisse (wieder je nach Alter etc., - bin überzeugt, jeder kennt das - ein Buch zu verschiedenen Zeiten gelesen öffnet verschiedene Facetten) haben kann und hat.

Trackback URL:
https://earichter.twoday.net/stories/o-18-jt/modTrackback

User Status

Du bist nicht angemeldet.

Free Text (1)

Dieses Weblog wird hier archiviert.

Archiv (ab 1967)

Lyrikbände:

Der zarte Leib

Friede den Männern

Das leere Kuvert

Eurotunnel

Obachter

Schreibzimmer

Romane:

Die Berliner Entscheidung

Originalverpackt oder mit Widmung über e.a.richter(ett)gmx(punktt)at erhältlich.

„...Dies ist der Versuch eines komprimierten Familienromans, zugleich ein Reisebericht, der an einen Ort führt, wo die Kriegsschäden an den Menschen und deren Behausungen noch unverhüllt sichtbar sind. Lena und Stefan, von den gegensätzlichen Seiten der Geschichte kommend, unternehmen, sich zwischen Überlebenden und deren Nachkommen bewegend, einen Versöhnungsversuch...“ (Klappentext)

Fliege. Roman eines Augenblicks

Aktuelle Beiträge

0126-1b A KIND OF DEPARTURE
the lady of the house speech-impaired since an incomprehensible...
e.a.richter - 2015-12-30 07:09
0126-1a AUCH EIN ABGANG
die gnädige frau sprachgestört wohnt sie seit einem...
e.a.richter - 2015-12-26 03:43
0107a - THE TEACHERS
the teachers leave the school the prettiest teacher...
e.a.richter - 2015-12-23 21:27
DT-001 FETISCH
(YVONNE) ihre weiße Bluse steif, ein Fetisch, der...
e.a.richter - 2015-12-21 12:12
DZL-18 DAS BETT
das Bett, das alles verraten wollte und nichts verriet:...
e.a.richter - 2015-10-07 04:22
DZL-17 PUPPI
was zu sehen ist, in einzelne Stücke zerlegen; alle...
e.a.richter - 2015-06-02 08:44
DZL-01 WIR GLAUBTEN AN...
wir glaubten an das Blut. Dieses Wir ist mit Vorsicht...
e.a.richter - 2015-05-07 13:59
DZL-02 MEIN PATTEX
mein Zauberer hieß nicht Pattex, nicht Expatt. Er lebte...
e.a.richter - 2015-05-07 13:58
DZL-03 DER ZARTE LEIB
Zartleibigkeit wird vermißt, auch intensive Zartlebigkeit....
e.a.richter - 2015-05-07 13:56
DZL-04 - ZU MEINER ZEIT
zu meiner Zeit war gar keine Zeit. Die Zeit hatte sich...
e.a.richter - 2015-05-07 13:55
DZL-06 IN DIE HÖHE SINKEN
schwierig zu lesen: Er begriff seine Geschichte. Blatt...
e.a.richter - 2015-05-07 13:53
DZL-07 TISCHLERPLATTE
mein Vater, Tischler, hatte keine Tischlerplatte, er...
e.a.richter - 2015-05-07 13:52
DZL-08 GOLD, GLANZ, HEITERKEIT
sie sagt, ich bin älter als mein Vater, als er zu...
e.a.richter - 2015-05-07 13:51
DZL-09 WIR GLAUBTEN AN...
wir glaubten an das Blut. Dieses Wir ist mit Vorsicht...
e.a.richter - 2015-05-07 13:51
DZL-10 BRAUTMASCHINE
ein Mann braucht nur eine Wand und eine Braut. Er braucht...
e.a.richter - 2015-05-07 13:50
DZL-11 SCHWIMMERIN
wenn sich das Tor geöffnet hat, fährt allen in ihren...
e.a.richter - 2015-05-07 13:50
DZL-12 FRESSEN UND WUCHERN
Gedichte zu fressen ist nicht meine Sache. Ich lese...
e.a.richter - 2015-05-07 13:49
DZL-13 KONTROLLE VERLIEREN
Kontrolle verlieren, im Nebenraum, wo alles aufgetürmt...
e.a.richter - 2015-05-07 13:49
DZL-14 MUNDSCHUTZ FÜR...
es begann mit strahlenden Augen, auf einer Schnitzerei...
e.a.richter - 2015-05-07 13:48
DZL-15 JUNGE FRAUEN...
dem kleinen Mann macht die Situation einen Gefallen: zwei...
e.a.richter - 2015-05-07 13:48

Free Text (2)

Free Text (3)

Archiv

Januar 2012
Mo
Di
Mi
Do
Fr
Sa
So
 
 
 
 
 
 
 1 
 4 
 6 
 8 
 9 
10
12
14
16
18
20
21
22
24
26
27
29
30
31
 
 
 
 
 
 

Suche

 

Status

Online seit 5057 Tagen
Zuletzt aktualisiert: 2016-01-06 11:08

Credits


A Roma etc.
Das leere Kuvert
Der zarte Leib
Detonation und Idylle
Die Berliner Entscheidung
Erste Instanz
Eurotunnel
Fliege (Notizen)
Friede den Männern
Jetzt
Licht, Schatten
Namen
Obachter
Pessimismus & Erfahrung
Schreibzimmer
Stummfilmzeit
... weitere
Profil
Abmelden
Weblog abonnieren