Die Berliner Entscheidung

Freitag, 15. Februar 2013

DB-77 (27) (Oskar greift nach meinen Händen)

Oskar greift nach meinen Händen. Die Regierung hat erklärt, daß die Intershop-Läden nicht ständig die Begleiter des Sozialismus sein würden. Aber solange wir die Devisen ... Er schüttelt den Kopf, läßt meine Hände wieder gleiten, lacht heiser, die Augen mit schelmischem Eifer auf mich richtend. Jetzt würde Götz sagen: Das ist doch der reinste Drei-Klassen-Staat. Kennst du den Spruch? Ich verneine.

Die Shopper, die gehn in die Intershops. Die Exer belagern die DDR-Mark-Exquisit-Läden. Und die Hopper&Gipser, die Otto-Normalverbraucher, die keine West-Verwandten haben, die hoppen von einem Laden zum andern und fragen: Gibts was, gibts was? Für diese Demonstration seiner Möglichkeiten der Selbstpersiflage, das heißt des Springens über den historischen Schatten seiner Person, ohne Würde und Anstand zu verlieren, verdient er eindeutig eine zärtlichere Zuwendung. Ich vermeide das Wort Onkel, obwohl es mir auf die Lippen kommt.

Bevor ich aber anknüpfen kann, legt Oskar noch ein Schäufelchen nach: Er gebe ja zu, daß der wunde Punkt die Steigerung der Effektivität und der Arbeitsproduktivität sei, die allseitige Planerfüllung. Aber die Diagnose seines neunmalklugen Schwiegersohns sei immer nur Krise, Krise.

Er blickt mich bekümmert an. Womit Götz falsche Steuerung meine. Der setze mehr auf die betriebliche Selbständigkeit, weil eben weder Prämien noch Leistungsanreize eine ausreichende Produktivitätssteigerung gebracht hätten. Größere Verantwortungsbereitschaft und Risikofreude könnten nur mit mehr Mitwirkung auf Betriebsebene belohnt werden. Dabei weiß der Kerl ebensogut wie ich, will Oskar festgehalten wissen, daß das, was er sich Krise zu nennen traut, größtenteils importiert ist. Daß die Fehler jetzt viel weniger im Planungssystem als in der gesamten Weltwirtschaft liegen.

Oskar, Goldonkel, bis oben zugeknöpfter Onkel, Vortragsonkel, Wortgourmet, Zappler vom Dienst, Disziplineur, der nur stur einen Weg gehen kann, Scheuklappen-Alter, dessen Haare sich sträuben, männlich bis zum Tod, wenn ein Konkurrent erscheint, der ihm den Rang ablaufen könnte. So müßte man ihn kriegen: Wie in einem lebendigen Bild ihn arrangieren, damit er nicht noch mehr zappeln muß. Und nur eine einzige Bewegung zulassen: meine! Meine Bewegung auf der Couch (die in keinem Detail der deinigen ähnelt), über dieser schüchtern-nachgiebigen Zentralfigur meines Lebens, die die Zeit an den äußersten Rand gedrängt hat.

Ich sehe mich mit einem ständig störenden Erinnerungsmann raufen. Er hat die Züge Oskars, seinen Körper, aber er ist nicht da. Der anwesende Oskar bietet keinen Widerstand mehr. Er hechelt vor sich hin. Er muß seine Sexualität aus einem tiefen Brunnen holen. Ich schaue ihm zu. Ich schaue mir bei meinen Eingriffen zu. Ich schaue mir zu, wie ich mir ins Gesicht blicke, den Kopf schüttelnd, ablasse von einer unsinnigen Wiederholungsbemühung.

Schließlich siehst du Lena neben Oskar sitzen, zwei Lenas übereinander neben zwei Oskars übereinander, weder glücklich noch unglücklich über das Schillern der Umstände. Sie halten einander an den Händen und wissen nicht, welche Kontur sie im Auge behalten sollen. Also stehen sie auf, ziehen sich an und erkennen einander mit Kaffeetassen in der Hand, aus ihnen kalt gewordenen Kaffee schlurfend, was sie nur verständnisvoll lächeln läßt

(Die Berliner Entscheidung, Residenz Verlag, 1984)

Mittwoch, 13. Februar 2013

DB-76 (27) (Während er einen Kaffee hinstellt)

Während er einen Kaffee hinstellt, erzähle ich ihm den Vorfall mit den Büchern an der Grenze, was ihm nur ein ironisches Lächeln abnötigt: Unsere Grenzen sind eben fugendicht gegen die Literatur des Klassenfeinds verschlossen!

Das erinnert ihn dann sofort an seine schmerzlichen Auseinandersetzungen mit Götz, die zu Beginn der Polen-Krise einen besonderen Höhepunkt gehabt haben müssen. Götz habe immer das Nichtvorhandensein eines kulturellen Austausches mit Polen beklagt, sagt Oskar, die Schwierigkeiten, die jemand hatte, wenn er in Polen studieren wollte. Inzwischen seien die aus der Welt geschafft, denn kein DDR-Bürger könne mehr an eine polnische Universität. Zur Vertiefung der deutsch-polnischen Animosität hätten aber auch Horrormeldungen von ganzen Eisenbahnzügen aus der UdSSR, die irgendwo unterwegs in Polen verschwunden sein sollen, beigetragen.

Aber das offenkundigste Manko ist doch der Mangel, werfe ich ein, ganz auf Stefans Linie.

Oskar nickt. Götz meine dazu leider, das ganze System gehöre geändert, ausgetauscht. Dabei verliere er aber die Abhängigkeit der DDR vom kapitalistischen Ausland völlig aus dem Auge. Zum Beispiel bei der Abnahme von Fertigwaren, etwa Werkzeugmaschinen. Begreifst du - er bleibt vor mir stehen - diese schmerzliche Schizophrenie, sich einerseits aus ideologischen Gründen eine Krise im Westen zu wünschen, andererseits aber an einer Verschärfung der Situation eigentlich nicht interessiert zu sein, in Anbetracht der Abhängigkeit von den westlichen Devisen?

Ich könnte mir eine schrittweise Abkoppelung vorstellen, antworte ich, die Linken im Westen, die noch irgendwelche Illusionen haben, erwarten sich nicht die Nachahmung des Wachstums, des Konsumismus, sondern zum Beispiel mehr Mut zu basisdemokratischen Formen.

Das sei auch die Ansicht von Götz, stimmt Oskar zu, mir Kaffee einschenkend. Er kritisiere immer, daß die Pläne zu wenig anpassungsfähig seien, die Informationswege zu lang. Daß die Käuferwünsche zu wenig berücksichtigt, Bedarfsforschung und Bedürfnisgestaltung unterschätzt, vielfach als bürgerlich oder kapitalistisch abgetan werden.

Da sehe ich Götz ganz als von westlichen Vorbildern geprägten, hier nicht genügend hoch eingeschätzten Werbegrafiker, der seine Interessen der Allgemeinheit unterschiebt, sage ich.

Oskar nickt. Obwohl sich Götz hier nicht über Auftragsmangel beklagen könne, auch nicht über mangelndes Sozialprestige. Ein anderer Aspekt, den man nicht außer acht lassen dürfe, sei die Rolle der DDR als Entwicklungshelfer der anderen RGW-Länder, die Priorität der Außenpolitik, der Zwang, sich außerhalb der RGW-Länder Devisen verdienen zu müssen. Dies habe zur Folge, daß tatsächlich ein beträchtlicher Teil der qualitativ besseren Konsumgüter dorthin, noch dazu zu Dumpingpreisen, verkauft werden müsse.

Mir kommt vor, Oskar wolle jetzt seinen Prinzipienstreit, der zugleich ein Generationenkonflikt ist, mit mir anstelle von Götz aufrollen. Als müßte er immer wieder die Verletzung durch diesen Andersdenker von neuem inszenieren. Als könnte er sich mit einem immer unzufriedenen und aufmüpfigen Kind, für das er seinen Schwiegersohn hält, einfach nicht abfinden. Soll ich hier als Verführerin zum Zug kommen, muß ich ihm recht geben und mich zugleich distanzieren. Ihn in Sicherheit wiegen und mir zugleich den Rückzug nicht verpatzen. Also grenze ich mich, um Oskar nicht zu irritieren, von der Position seines Schwiegersohns nicht ab. Es werde wohl ohne Rücksicht auf den tatsächlichen Bedarf produziert. Wegen der festen Preise sei es dem Erzeuger nicht möglich, die Konsumwünsche über den Preis zu steuern. Weil genug Geld vorhanden ist, werde das mangelnde Warenangebot zu einem dauernden Ärgernis der potentiellen Käufer. Wozu noch komme, daß der Mangel nicht alle gleich treffe. Denn Westgeldbesitzer und Großverdiener (jetzt müßte mich Oskar schuldbewußt ansehen, aber er blickt auf meine Finger, deren Nägel nicht, wie früher, lackiert sind, aber auch nicht mehr abgebissen; auch der Daumen zeigt nicht mehr die typischen Spuren zwanghaften Einschlaf-Lutschens), die seien bevorzugt.

(Die Berliner Entscheidung, Residenz Verlag, 1984)

Montag, 11. Februar 2013

DB-75 (27) (Oskar hält leider nicht viel von meinen Träumen)

Oskar hält leider nicht viel von meinen Träumen, betont lieber, wie lustvoll es sei, mit mir essen zu gehen, und erinnert mich an ein gewisses Bistro in Genf, wo er sich im Schlepptau seines Freunds Léon zum Gourmet entwickelte. Das konnte er glänzend nach dessen Vorbild mit seinem Parteiauftrag vereinen.

(Ich erinnere mich prompt an ein anderes, Au pied de Cochon, Bourg-de-Four, das mit Oskar allerdings nichts zu tun hat: Dort traf ich mich mit einem reichen Südfranzosen, um Geld damit zu verdienen, ihm einmal in der Woche Gesellschaft zu leisten, was immer eine höchst vergnügliche Mischung aus Reden, Essen und Trinken gewesen ist. Einzige Gegenleistung: die Befolgung seiner Kleidervorschriften. Er liebte hochhackige Schuhe, enge, hochgeschlossene Kleider und Ledergürtel. Die intimste Annäherung bestand darin, daß er mich manchmal bat, unterm Tisch meine Stöckel auf das dünne Leder über dem Rist seiner Schuhe zu setzen und die mit aller Kraft so lange zu drehen, bis er den Schmerz nicht mehr aushielt.)

Oskar hüstelt, er sei eigentlich ein wenig verkühlt, hoffe, er habe mich nicht inzwischen schon mit seinem Pesthauch angesteckt. Eigentlich sei er heute recht schwach.

Ach, dein Herzschmerz, mein Lieber, sag ich, und das klingt ironischer, als es gemeint ist.

Er lenkt das Auto in die Rillestraße. ja, das wirkliche Herz sei ein launischer Geselle. Doch das symbolische scheine nicht mehr durch bei seinem Alter. Die Arbeit, die Pflicht, die Loyalität umgebe ihn wie ein Panzer. Aber er habe doch noch Sinn für Höhepunkte als Folge eines intellektuellen Bälle-Hin-und-Herwerfens, fügt er hinzu und steigt aus.

Oben stellt sich heraus, daß Lydia nicht da ist. Er habe ihr Landluft verordnet, erklärt Oskar verschmitzt. Gleich danach korrigiert er sich, er will ja keinen Eindruck schinden: Sie habe von selbst für ein paar Tage die Wohnung geräumt, damit er endlich das Material für seinen nächsten Artikel ordne und aufarbeite. Aber mich zu empfangen sei ja auch Arbeit. Traurige Arbeit, weil der Abschied immer näher rücke. Er sei nämlich noch immer kein Meister im Abschiednehmen. Sofort überschüttet er mich mit Komplimenten: wie unverändert, wie noch immer die Jugend in Person, das Mädchen, das rot anlief, das Kind, das sich vor ihm versteckt hat. Und er verbeißt sich in Detailfragen zu meiner Gegenwart: Wie man denn so lebe, freischaffend?

Indem man sich ständig in Panik befindet, weil man einem ständigen Wechsel der Interessen ausgeliefert ist. Indem man die jeweils zentralen Wünsche zurückstellt, weil man einem ständigen Druck von außen unterworfen ist.

Schließe ich mich ab, sage ich, schert sich kein Teufel um mich. Also muß ich mich ständig, obwohl ich das gar nicht will, anpreisen. Da ich vom Übersetzen nicht leben kann, muß ich ständig auf der Suche nach Themen und Menschen sein, die diese Themen illustrieren, muß ich ständig eine Aufreißhaltung einnehmen, ständig auf der Suche sein nach einer Zeitung oder Zeitschrift, die mir einen Artikel abnimmt. Dazu komme dann noch der Rundfunk, wo ich immerhin eine gewisse Sicherheit habe, daß mindestens alle zwei Monate eine Sendung gemacht wird. Alles hänge letzten Endes von meinem Fleiß ab, von meiner Kraft, die Trägheit zu überwinden, aus dem Chaos der Gefühle herauszufinden.

(Die Berliner Entscheidung, Residenz Verlag, 1984)

Freitag, 8. Februar 2013

DB-74 (27) (Während sich neben uns ein älteres Paar niederläßt)

Während sich neben uns ein älteres Paar niederläßt und sich mit leiser Stimme auf Russisch unterhält, biete ich all meinen Charme auf (du erinnerst dich sicher an unser Gespräch über den Einfluß vor allem Audrey Hepburns auf meine jugendlichen Weibsposen und -attitüden), um die Zeit bis zum Auftauchen und Verschwinden der Speisen zu überbrücken. Man kann ja lächeln wie Hepburn, die Augen darbieten wie Hepburn, das Eßbesteck halten wie sie, essen und lachen wie sie.

Man kann zugleich das Paar nebenan beobachten, Oskar signalisieren, daß man Appetit auf mehr hätte, aber sich nicht näher festlegen, was das "mehr" eigentlich heißt. Man kann plötzlich aus dieser pubertären Anwandlung aufschrecken, das Gegenteil von dem feststellen, was man soeben dezidiert behauptet hat, erstaunt sein über die Mißverständnisse, die ein einfaches deutsches Wort wie z. B. Wald auslösen kann. (Gehn wir in den Wald! Schaun wir uns doch den Wald einmal an! Lassen wir uns im Wald, im deutschen, häuslich nieder! Achten wir nicht auf die Unwirtlichkeit der Witterung, konzentrieren wir uns ganz auf uns und den Wald! Der Wald - unser Freund und Retter. Wir brauchen ja kein Gespräch über die Bäume des Waldes zu führen. Undsoweiter.)

Das Paar schmatzt und schleckt und schlürft einträchtig, während Oskar versucht, mit seiner Serviette die Mundwinkel von Speiseresten zu reinigen. Diese Wischgeste fasziniert mich. Ich könnte sie jetzt mit meinem Taschentuch wiederholen, in ein Streicheln umlenken. Einen alten Mann streicheln, der darunter auflebt, sich erhebt, zu jauchzen oder jodeln beginnt, so das ganze Lokal, die Gäste, das Küchenpersonal aus den Angeln hebt.

Du siehst, es geht mir gut. Eine extreme Neigung wechselt die andere ab. Schau ich zur Decke, regnet es Kometen. Schau ich zu Boden, züngelt das Feuer aus dem Erdinneren herauf. Niemand merkt das.

Nur Oskar lächelt mehrdeutig. Er verlangt die Rechnung. Als er sie in den Händen hält, studiert er sie aufmerksam mit aufgesetzter, randloser Brille. Erst dann bezahlt er. Nachdem der Kellner weg ist, erklärt er sein Verhalten, das hier keinen Sinn hat, mit der Gewöhnung ans Vergleichen der Preise im nichtsozialistischen Ausland. Zugleich hält er fest, daß er sich bis jetzt nicht an diese Jagd nach dem jeweils billigsten und besten Produkt gewöhnt hat, wobei sich noch dazu das Preis-Leistungs-Verhältnis ständig verschieben kann, sodaß daraus sich die Verwandlung des einfachen Konsumenten in einen ständig auf der Hut seienden, ständig mit dem Betrogen-Werden rechnenden Warendetektiv ergebe.

Oskar steht auf, bietet mir seinen Arm, hilft mir ins Auto und fährt gleich weg. Vorsichtig, ganz Vatergegensatz, auch dabei. Funkelnde Zweideutigkeiten, der Wein hat ihn animiert.

(Auch meine Vorsicht: immer diese Vernunft, die zur Mäßigung mahnt. Was ich an Wünschen zulasse, ist das Ergebnis meiner vernünftigen Vorsorge, die anscheinend eine Form von Selbstliebe darstellt. Die denkt sich einen vernünftigen Umweg aus, während das Bedürfnis als gerade Linie einleuchtet. Aber unter dem Vernunftkompromiß rumoren die wahren Wünsche. Die gezinkten Karten wegwerfen, aufdecken, was wirklich in mir steckt.)

In meinen Träume fährt oft ein alter Mann Auto. Wie Oskar oder mein Vater. Im letzten Traum, der mir spontan einfällt, hat mich dieser (es war bestimmt nicht mein Vater) sehr gewalttätig behandelt, mich in die Ecke geworfen, nachdem er das Auto angehalten, reversiert hat und rückwärts in eine Garage hineingefahren ist. Ich denke mir, daß dieser Gewalttäter ich selbst gewesen sein könnte (ich bin mir aber deiner Zustimmung nicht sicher). Auch das Auto war ich (da ich ja am liebsten, um keine Angst vor einem Unfall haben zu müssen, selber lenke). Ebenso die Garage (als Frau, in die etwas Unförmiges geschoben wird, die dieses umhüllt, verschließt). Und wenn dann noch (wie in der Geisterbahn) von allen Seiten Hände nach mir greifen, schreie ich hysterisch auf: Nicht auszuhalten ist diese Bedrohung, die aber zugleich sehr attraktiv wirkt!

(Die Berliner Entscheidung, Residenz Verlag, 1984)

Mittwoch, 6. Februar 2013

DB-73 27 (Ein Rückfall sozusagen)

27

Ein Rückfall sozusagen: diese plötzliche Sucht nach einer Couch (die es bei dir ja gar nicht gibt). Wie Schuppen vor den Augen: diese eingebildete Nähe zu dir. Ich möchte dich sehen, jetzt, in Wirklichkeit: deine blitzblauen Augen, deine gelb-schwarzen Löckchen, dein flambiertes Gesicht, wenn du lachst, deinen schwarz-roten Mund, deinen flammenden Pullover, deine Pulswärmer, deine Wadenstrümpfe, deine schwarze Lederkluft.

Von mir aus auch: deine brave Jeansverkleidung, deine noch braveren Indiakleidchen, die dich zu einem Rüschenmädchen machen, zu einem Pferdeschwanz-Stirnfransen-Stupsnasen-Typ aus meinen heißerlittenen fünfziger Jahren. Oder würde dir im Moment bleichgepuderte Clowns-Dünnhäutigkeit genügen, um mich zu schocken, zu mütterlicher Aggression zu provozieren? Du sollst wissen: Dies ist eine Klage über das Schwinden der Einbildungskraft, über das Nachlassen der Bildschärfe, über die Sehnsucht nach einer Rückkehr in deine Mitgegenwart.

Ich könnte Situationen zu rekonstruieren versuchen, die mich trösten, aber an diesem Ort erscheint mir das plötzlich so pervers. Daher ist mir nichts willkommener als ein Anruf Oskars, mit genau den Worten, wie ich sie mir vorgestellt habe. Altdeutsche Höflichkeit. Nur der neutrale Ort des gemeinsamen Essens (das Restaurant im Haus der deutsch-sowjetischen Freundschaft) macht mich stutzig. Er hätte ja auch wieder kochen können, bei sich zuhause. Ich vermute Schwierigkeiten mit Lydia.

Ich hätte mir gewünscht, daß er mich in die Rillestraße chauffiert, und wir hätten dort weitergesehen. Er sitzt mir jedoch an diesem winzigen Ecktisch gegenüber, umgeben von Stasi-Leuten, mit grellen Krawatten, und Spionen, wie er gut gelaunt feststellt, die alle darauf aus sind, Kontaktpersonen (nicht seine, die der andern) zu ermitteln und zu beschatten. Es soll nur ein Witz gewesen sein, sagt Oskar und schielt auf eine blonde Schönheit neben einem Schwarzhaarigen, der in seinem Leibesfett geradezu schwimmt: Die ist auch eine.

Ich wehre mich sofort übertrieben heftig gegen solche Verdächtigungen der um uns Essenden.

Er sagt, nun wieder ernst, daß er auf so etwas überhaupt komme, hänge damit zusammen, daß er Bürger eines Staates sei (und zwar ein sehr loyaler), bei dem jede Geste, jede Bewegung von seinen Gegnern als Hilflosigkeit, Anzeichen von Schwäche oder gar Aggression gedeutet werde. Da müsse es doch erlaubt sein, immer und überall mißtrauisch zu sein, um jeder Finte des allgegenwärtigen Feindes entsprechend entgegentreten zu können.

Auf eine Diskussion auf dieser Ebene will ich mich nicht einlassen. Noch dazu, wo ich einen Überbrückungsversuch Oskars dahinter wittere, seine alte Tendenz, den Diskurs über die großen Zusammenhänge, die Ereignisse der Tages-, Wochen- und Monatspolitik über das Persönliche zu stellen.


(Die Berliner Entscheidung, Residenz Verlag, 1984)

Sonntag, 3. Februar 2013

DB-72 26 (Zuerst der Widerstand)

26

Zuerst der Widerstand, überhaupt etwas zu tun. Das heißt eine grenzenlose Passivität, eine Müdigkeit, als wäre Stefan die ganze Nacht treppauf, treppab gelaufen, immer hinter dem Schein, der Negativform Julias her. Aber um sie läßt sich jetzt kein Traum mehr rekonstruieren, nur jene schrille, dunkle Szene, die sich so nicht ereignet haben kann. Außerdem weigert sich Stefan, jede Verantwortung für seine Hoffnungslosigkeit zu übernehmen, und füllt die dadurch ausgesparte Zeit, den undefinierbaren Erinnerungsfleck auf seiner Retina lieber mit Konturen, die ihm vertraut sind.

Ohne Anstrengung taucht jetzt Josef auf, nachdem klargeworden ist, daß der kommende Tag dazu bestimmt ist, über die Grenze zu wechseln. Josef könnte jetzt noch in Wien sein, aber genausogut wieder zurück in seiner Wohnung in West-Berlin. Wenn Stefan drüben angelangt ist, würde er ihn auf jeden Fall anrufen. Vielleicht würde es zu seiner Beruhigung schon genügen, die Stimme Josefs zu hören. Vielleicht würde er ihm gar keine Vorwürfe machen müssen wegen der Wiener Beunruhigung. Vielleicht wäre eine klärende Aussprache, die die Machtprobe des Schweigens, der abgerissenen Erklärungen, des schlechten Gewissens unterbrechen würde, der Anfang zu einem anderen Verständnis ihrer Freundschaft.

Wie gestern kommt auf Stefans Klingelzeichen ein Beamter aus einer Tür in eines der durch mannshohe Holzwände gebildeten Abteile und mustert den ihm vorgelegten Paß. Das für die Verspätung angeführte Märchen von der kranken Familie zieht nicht. Der Mann sagt nur ungerührt, Stefan habe gegen die Gesetze der DDR verstoßen und deshalb zehn Mark Strafe zu zahlen. Weiters habe er den entsprechenden Tagesumtausch nachzuholen. Da bei der Staatsbank nebenan keine Schecks, sondern nur Devisen angenommen werden, erwirbt Stefan mit seinen letzten Ost-Mark ein Tagesvisum nach West-Berlin und entgeht weiteren Schwierigkeiten, indem er verspricht, noch am selben Abend seine Schulden zu begleichen.

Nachdem Stefan Ost-Berlin mit der S-Bahn verlassen hat, stellt er, wie schon vor Jahren, beim ersten Anblick des West-Berliner Verkehrs, der West-Berliner Straßen sofort bei sich einen Ekel fest, einen Umkehrwillen, einen Widerwillen, sich dem jetzt auszuliefern, dieser vorhersehbaren Verwirrung, diesem widersprüchlichen Bewegungsknäuel, diesem veränderten Tempo und Geruch. Vollgestopfte Auslagen, asiatisches Kunstgewerbe, Billigbücher, Kebab-Läden, Kosmetika, Beate Uhse, Peep-Shows, Sex-Kinos, Mercedes-Stern: Alles drängt sich auf, schreit laut und beständig, macht Stefan sofort hilflos, verschlossen und zwingt ihn, gerade erst angekommen, schon wieder zur Flucht.

Zur Beruhigung, als eigenwillige Kompresse über seinen zuckenden Kopf, verordnet er sich Kunst. Eine Frau zeigt ihm den Aufgang zur Legér-Ausstellung in der Budapester Straße. Legér erwartet ihn mit kräftigen Farben und schwellenden Gliedern. Stefans Kopf aber, seine Haut, seine Augen brennen, sein Herz japst und torkelt, seine Lunge zittert, seine Leber rotiert, sein Magen rebelliert gegen die Schwerkraft des altbekannten Neuen.

Abwehren, Josef gleich anzurufen. Abwehren, den schnell eingetauschten 50-Mark-Schein wegen der Telefonpfennige zu zerreißen. Die Ungewißheit bestehen lassen, gegen die Ungewißheit selbst bestehen. Sich treiben lassen, unwillig, unfähig, diesen Augenblick zu genießen. Zugleich keine Kraft heraufholen können, sich diesem Wegwerfen zu widersetzen.

Sich schließlich ins nächstbeste Kino setzen. Im Halbdunkel die Uhr, die grün die Zeit anzeigt: 12.51 Uhr. Ein Film geht zuende: Im letzten Moment wird eine Frau vor ihrer Vergewaltigung bewahrt. Langer, überdehnter, lächerlich wirkender Kampf zwischen dem Bösewicht und dem Liebhaber. Immer wieder rafft sich der eine, dann der andere auf. Schließlich fällt der verhinderte Vergewaltiger auf die drei Zinken einer Mistgabel. Er stirbt urplötzlich. Blutverschmiert klammern sich die Gerettete und ihr Liebhaber aneinander. Auf einmal stoppen zwei Autos. Eines explodiert sofort, aus dem zweiten springen zwei eindeutige Ganoven, die einen Dritten, der neben einer Zigarre ein teuflisches Grinsen im Gesicht hat, in einen Rollstuhl setzen. Er läßt sich ein Gewehr reichen. Ein Schuß fällt. Die Gerettete schreit: Nein, Vater! Der Retter taumelt getroffen, konvulsivisch zuckend. Ein zweiter Schuß. Die Braut streckt ihrem Geliebten die Hände entgegen, ohne ihn zu erreichen. 13.17 Uhr. Das Bild friert ein.

Draußen regnet es noch immer Schneeflocken. Josef hätte die Freundespflicht gehabt, Stefan auf dem Bahnhof Zoo zu erwarten. Die gesammelten Vorwürfe an ihn, sein gesammeltes Schweigen. Stefans Wut, die zu einer länger andauernden Gleichgültigkeit hätte werden können. Stefan beschließt zu gehen, wenn möglich ohne Reflexionen und Schuldgefühle.

(Die Berliner Entscheidung, Residenz Verlag, 1984)

Freitag, 1. Februar 2013

DB-71 (25) (Er empfinde eine eigentümliche Erregung)

Er empfinde eine eigentümliche Erregung, sagt Stefan, beim Anblick von angehäuften nackten Leibern auf Fotos. Aber nicht das Totsein interessiere ihn, sondern das Verstümmeltsein. Und er spüre immer wieder den gleichen Widerspruch in sich: Er möchte alles genau sehen, alle Verletzungen im Detail; er möchte die zerrissenen, geschundenen Menschenleiber so in sich aufnehmen, daß sie niemals mehr aus seinem Gedächtnis schwinden können; er möchte, was sonst schleunigst verhüllt wird (Fleischstücke, Köpfe, Teile von Gliedmaßen), schamlos enthüllen. Zugleich verdecke aber diese mitleidlose Neugier einen Drang zum Alles-Wissen. Er wolle immer allem an die Wurzel gehen, daher auch an die Wurzel des Verbrechens.

Mein Zynismus läßt ihn zurückzucken, schuldbewußt: An welche Wurzel ich denn gehen solle - an die Wurzel meiner Eltern, an die Wurzel meiner Herkunft, in die Öfen, in den Rauch?

Ich kann ihm nur banale Augenblicke referieren, wo mir der alte Antisemitismus entgegengeschlagen ist: Jesus, der zwar ein Jude war, aber; der Messias und die Juden; die Juden, immer wieder die Juden. Und immer wieder diese Gespaltenheit, diese Isoliertheit. Würde mein Gefühl unmittelbar herausbrechen, würde ich mich aus meiner Schutzhülle begeben müssen.

Ich solle mich endlich normalisieren.

Wenn ich aber umgeben bin von Leuten, bei denen ich gezwungen bin, auf der Hut zu sein? Nicht vor ihm, Stefan, schränke ich ein. Er brauche gar nicht beleidigt zu sein, er sei ja ein so rücksichtsvoller Philosemit, der sich noch vor einem möglichen Angriff zur Unterwerfung anbiete. Er sei verdächtig verständnisvoll. Immer diese bemühte Rücksicht, mit der er sich meine Zuneigung in jeder Situation erkaufen will. Und jetzt schon wieder dieses scheinheilige Sich-Näherkommen über den Vergangenheitsumweg. Diese Anbetung eines besonders ergiebigen Studienobjekts. Es müßte ihn doch selber ekeln.

Ich kann mich nur zumachen. Es macht mich zu. Mein Mund ist wie gelähmt. Aber ich könnte mir die Lippen fransig reden: Immer stößt Stefan nach, immer ist es ihm zuwenig. Er hätte lieber eine, die ihm alles genauer, detaillierter, sachlicher schildern würde, muß aber mit meinen herausgepreßten Fetzen vorliebnehmen. Dafür erwarte ich dann sofort Anerkennung, größtes Lob. Aber das ist bei ihm nicht drin. Deshalb stehe ich dann stumm herum, und es entsteht dieser Zorn über die unnötige Vergeudung, eine neue Auflage unseres Grundmißverständnisses.

Stefan wehrt sich mit dem Hinweis, ich würde nie einen Unterschied zwischen einer allgemeinen Diskussion und einem Gespräch über uns machen.

Aber ich bestimme doch die Grenzen des Sagbaren, empöre ich mich. Es überanstrengt mich schon lang, während er abwinkt: Es reicht nicht! Er fordert mich zu mehr auf, und es reicht nicht! Er verlangt, daß ich mich auf eine sachliche Ebene begebe, bezeichnet mich aber im selben Atemzug als ein emotionales Kuddelmuddel, das völlig unverständlich irgendwann zur Salzsäule erstarrt. Ich sollte mich eigentlich bedanken: Wäre nicht er, mit seiner unablässigen, lästigen Neugier (und wärst nicht du mit deiner unentrinnbaren Nähe!), ich wäre ständig so versteinert wie in den verzweifeltsten Momenten meines Lebens.

(Die Berliner Entscheidung, Residenz Verlag, 1984)

Dienstag, 29. Januar 2013

DB-70 25 (Stefan ist nicht zu halten gewesen)

Stefan ist nicht zu halten gewesen, wollte mich zuerst dazu überreden, ihn nach Oranienburg, früher Sachsenhausen, zu begleiten, hat aber trotz seines Bettelns allein fahren müssen. Am späten Nachmittag wieder eingetroffen, hatte er noch immer nicht verstehen wollen, daß ich nicht mitkommen konnte.

Stell dir mich als KZ-Touristin vor! Er gibt zwar zu, selbst im Zwiespalt gewesen zu sein, aber nicht anders gekonnt zu haben. (Sein Vater, durch viel Glück erst im letzten Kriegsjahr eingezogen, geriet noch während seiner Ausbildung in amerikanische Gefangenschaft, und zu Weihnachten 45 war er schon wieder zurück bei Stefans Mutter und seinem älteren Bruder.)

Stefan will genau wissen, was ich ertragen kann, und zwingt mich zu Abgrenzungen: Kein Augenschein! Keinen Fuß auf die Erde am Ort der Vernichtung!

Ich habe genug Bilder gesehen, Bücher gelesen. Nicht gleich nach der so verspäteten Aufklärung durch meinen Vater. Langsam, langsam hab ich alles durchschaut. Langsam, langsam ist ein Bild der Verfolgung, der Opfer und ihrer Mörder entstanden.

Aber schnell hat sich eine Angst eingestellt, sich der Familienangst hinzugesellt: die Angst, daß noch immer nicht alles vorbei sei, die Angst, daß der unscheinbare Nachbar der Mörder meiner Verwandten gewesen sein könnte. Denn auch jetzt kannst du die Wahrheit nicht laut hinausschreien. Du mußt froh sein, zu den Überlebenden zu zählen, zu denen, die zurückgekehrt und untergetaucht sind.

Stefan drängt mir seine Bilder auf: die lange Fahrt, verzögert durch den Pendelverkehr zwischen Rummelsburg und Betriebsbahnhof Rummelsburg; der Anmarsch durch den Ort in Richtung Gedenkstätte.

Hinterm Tor der weite, leere Platz, der schmutzige Schnee. Weit weg das Mahnmal. Davor, im Halbrund zu beiden Seiten, eine Mauer, die die Stirnseiten der früheren Baracken erkennbar verbindet. Rechts im leeren Feld eine kleine verrostete Straßenwalze.

Zwei Radfahrerinnen, dick vermummt, die lachend vorbeikurven. Bei der Annäherung an das Mahnmal das Lauter-Werden von zwei Geräuschen: das Prasseln der Flammen des Ewigen Feuers (es habe geprasselt wie beim Schmalz-Auslassen) und das Röcheln des Gullys daneben, in den das Schmelzwasser abfließt. Und links der schöne Baum, schön bis in die feinsten Verästelungen.

Der hätte hier nicht wachsen dürfen, sagt Stefan. Er habe nur den Gedanken gehabt, daß an dieser Stelle die Erde hätte unfruchtbar bleiben sollen, kahl in alle Zukunft. Zugleich habe er denken müssen, das Blut der Begrabenen nähre immer wieder von neuem das Gras und die Bäume. Aber deren Qualen und Leiden wölbten die Erde nicht, bis sie explodiert, sondern seien mit ihnen eingeäschert, zu Staub geworden.

Die Reste der Öfen. Die Grundfesten der Anlage, in deren Mitte sich der Genickschußraum befunden hat, jetzt ein Modell unter einem Dach. Dahinter eine Skulptur, von der der schmelzende Schnee tropft. Weiteres wehre ich vehement ab.

Dann wieder eines dieser Leichenfotos. Ich kann nicht wirklich hinsehen, obwohl ich mich schon oft gezwungen habe hinzusehen, ohne die Angst vor den Konsequenzen zu verlieren: immer diese Annäherung ans Aushalten-Müssen.

(Die Berliner Entscheidung, Residenz Verlag, 1984)

Sonntag, 27. Januar 2013

DB-69 (24) (Er streift an herabhängende Säcke)

Er streift an herabhängende Säcke, stolpert, fängt sich an Julias Hüfte. Jetzt führt eindeutig sie Regie, nachdem sie sich selbst vom Hemmschuh ihrer geheimen Verzweiflung befreit hat. Ihr Recht sei es, einmal ungestraft aus ihrem System von Pflichten, bemessenen Tagesabläufen auszubrechen. Ihr Recht, diesen fremden, spröden, phantasieüberfrachteten Mannskörper nicht einfach sang- und klanglos verschwinden zu lassen. Schon morgen wird er wie Schnee weggeschmolzen sein, ohne eine Spur hinterlassen zu haben. Sie habe aber ein Recht auf eine Spur, zumindest eine solche, wie sie der Schnee hinterläßt.

Irgendwo ein Sofa, das Ludwig gerade repariert hat, wie sie sagt. Sie läßt sich darauf nieder, bäumt Stefan ihren Bauch entgegen.

Er kippt auf sie, entschuldigt sich für sein Gewicht, er tappt in eine staubige Stelle, die Mauer neben ihnen ist feucht und rauh. Er hält sein Ohr an ihres, reibt so lang, bis es freiliegt. Die Ostsee, sagt er, rauscht.

Oder die Donau, die kalte, flüstert Julia, gleich darauf wieder nach Geräuschen, die von oben, aus den Wohnungen über ihnen kommen könnten, horchend. In einiger Entfernung das Glucksen abfließenden Wassers in einem Rohr.

Stefan nähert sein Auge dem ihren, senkt die Wimpern, hebt sie - ein Kitzel, der ihn lüstern macht.

Und Julias Hand umschließt seine und führt sie unter ihr Kleid, zum bloßen Nabel hin, wohinein er seinen kalten Finger bohrt, immer tiefer, ohne daß Julia einen Laut von sich gibt. So könnte er eine Weile mit seiner Geburt versöhnt werden. So müßte er nicht schreien, bis seine Kehle wund ist, schweigen, bis das Schweigen brennt.

Stoffe, Gerüche, Bewegungen, Sich-Erhitzen, Errichten einer Laubhütte aus zwei Leibern, einer Entbindungsstation. Und Julias Antwort: Ihr Mund um seinen Daumen, die Schnittwunde auflutschend, bis sein Blut heraustritt.

Und das doppelgesichtige, doppelschneidige Messer ihrer zweiten Begegnung projiziert sich in Stefans Kopf und wächst zugleich strikt zwischen seinen Schenkeln heraus ohne mörderische Absicht.

Mit dem ersten Wehenschrei Julias erscheint diese Szene auf einer grell beleuchteten Bühne, wo sie und Stefan als Liebespaar aufeinanderliegcn, ihre Stellungen wechselnd, ohne das erstarrte Publikum zu beachten.

Immer schneller leert sich der Saal. Aber die Empörung, der Geruch des Skandals bleibt haften, trübt die Sinne, verfinstert die Situation, bis Stefan sich wiederfindet, naß, kalt und verlassen, mit zuckenden Gedanken: Er würde sie ficken müssen bis zur völligen Hörigkeit.

Er würde dieses Haus in die Luft sprengen, damit später nichts mehr von dieser unsinnigen Luststunde zeugen kann. Er würde ihre Kinder töten müssen, ihren Mann zu seinem Sklaven machen, der ihm jeden Wunsch von den Augen abliest. Er würde sich hier einnisten als U-Boot, nur von den nächtlichen Vereinigungen ernährt.

Er würde, erkennt Stefan mit erschreckender Klarheit, nun schon draußen vorm Haus, immer wieder an diesen undefinierbaren Ort zurückkehren müssen, von neuem den Drang verspüren, alle diese in der Finsternis verborgen gebliebenen Gegenstände zu rekonstruieren

(Die Berliner Entscheidung, Residenz Verlag, 1984)

Samstag, 26. Januar 2013

DB-68 (24) (Stefan kann sie nicht mehr anblicken)

Stefan kann sie nicht mehr anblicken, Julia will sich erheben. Noch eine Minute, bittet Stefan und bereut es sofort.

Ludwig und ich wollten heute früh schlafen gehn, sagt Julia. Sie sitzen ihre Trauerminute ab, ohne einander anzusehen.

Draußen läuft Julia sogleich die Ewaldstraße hinauf. Stefan nimmt an, sie habe jetzt endgültig genug. Als er näherkommt, sieht er sie unter einer Gaslaterne lehnen. Er tappt sich an ihren Mantel heran, aber sie hastet, als er nach ihr faßt, weiter, ins Morastfeld hinein, und Stefan hinter ihr her, hinter ihrem Keuchen.

Keuchend hält sie bei einem fast unsichtbaren Gebüsch, springt ihn an, als er neben ihr steht, einen Haufen Fragen im Hals, reißt ihn an den Haaren zu sich herab, wimmert, weint, fleht, zittert, beißt.

Von einem Augenblick zum andern ist sie weg, weggehuscht zu den Häusern, die die Lilienstraße begrenzen, wo weiter bergab neben der Silbertanne unterm Dach Ludwig womöglich bereits im Bett liegt, müde vom warmen Bad und vom letzten Fernsehfilm.

Und Stefan, nach einer Sekunde Zögern, hinter ihr her, mit zerrissener Lippe, ein Zwangsspiel vermutend, das ihn weiter demütigen soll, um ihren Sieg vorzubereiten.

Beim Tor erwartet sie ihn, stumm und naßwangig. Und Stefan, neugierig, bereits berauscht von der Aussicht auf eine lustvolle Katastrophe, folgt ihr taumelnd bis zur Schwelle des Hauses.

Nach dem Aufschließen der Eingangstür flammt das Licht nicht auf. Keine Bewegung die knarrende Treppe hinauf, sondern ein leises Versinken Julias, die ihn mitzieht, in Richtung Keller.

Stefan erscheint sich plötzlich als selbstgewisses Kind, das keinerlei Erwartungen mehr hat. Keine heißen Wünsche, keine Eroberungskonstruktionen. Er kann sich jetzt keine Orgie mehr vorstellen, die das Äußerste von seinem Körper fordert, sondern nur mehr einen Unterschlupf unter körperwarmen Kleidern, ein Anklammern, ein Wiegen und Plappern.

Eine Tür und noch eine Tür. Völlige Finsternis. Ein kleine, knochige, trockene Hand greift nach ihm und lotst ihn in einen Raum, in dem es nach Kohle, Öl, Schweiß und Arbeit riecht.

(Die Berliner Entscheidung, Residenz Verlag, 1984)

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„...Dies ist der Versuch eines komprimierten Familienromans, zugleich ein Reisebericht, der an einen Ort führt, wo die Kriegsschäden an den Menschen und deren Behausungen noch unverhüllt sichtbar sind. Lena und Stefan, von den gegensätzlichen Seiten der Geschichte kommend, unternehmen, sich zwischen Überlebenden und deren Nachkommen bewegend, einen Versöhnungsversuch...“ (Klappentext)

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