Samstag, 26. Januar 2013

DB-68 (24) (Stefan kann sie nicht mehr anblicken)

Stefan kann sie nicht mehr anblicken, Julia will sich erheben. Noch eine Minute, bittet Stefan und bereut es sofort.

Ludwig und ich wollten heute früh schlafen gehn, sagt Julia. Sie sitzen ihre Trauerminute ab, ohne einander anzusehen.

Draußen läuft Julia sogleich die Ewaldstraße hinauf. Stefan nimmt an, sie habe jetzt endgültig genug. Als er näherkommt, sieht er sie unter einer Gaslaterne lehnen. Er tappt sich an ihren Mantel heran, aber sie hastet, als er nach ihr faßt, weiter, ins Morastfeld hinein, und Stefan hinter ihr her, hinter ihrem Keuchen.

Keuchend hält sie bei einem fast unsichtbaren Gebüsch, springt ihn an, als er neben ihr steht, einen Haufen Fragen im Hals, reißt ihn an den Haaren zu sich herab, wimmert, weint, fleht, zittert, beißt.

Von einem Augenblick zum andern ist sie weg, weggehuscht zu den Häusern, die die Lilienstraße begrenzen, wo weiter bergab neben der Silbertanne unterm Dach Ludwig womöglich bereits im Bett liegt, müde vom warmen Bad und vom letzten Fernsehfilm.

Und Stefan, nach einer Sekunde Zögern, hinter ihr her, mit zerrissener Lippe, ein Zwangsspiel vermutend, das ihn weiter demütigen soll, um ihren Sieg vorzubereiten.

Beim Tor erwartet sie ihn, stumm und naßwangig. Und Stefan, neugierig, bereits berauscht von der Aussicht auf eine lustvolle Katastrophe, folgt ihr taumelnd bis zur Schwelle des Hauses.

Nach dem Aufschließen der Eingangstür flammt das Licht nicht auf. Keine Bewegung die knarrende Treppe hinauf, sondern ein leises Versinken Julias, die ihn mitzieht, in Richtung Keller.

Stefan erscheint sich plötzlich als selbstgewisses Kind, das keinerlei Erwartungen mehr hat. Keine heißen Wünsche, keine Eroberungskonstruktionen. Er kann sich jetzt keine Orgie mehr vorstellen, die das Äußerste von seinem Körper fordert, sondern nur mehr einen Unterschlupf unter körperwarmen Kleidern, ein Anklammern, ein Wiegen und Plappern.

Eine Tür und noch eine Tür. Völlige Finsternis. Ein kleine, knochige, trockene Hand greift nach ihm und lotst ihn in einen Raum, in dem es nach Kohle, Öl, Schweiß und Arbeit riecht.

(Die Berliner Entscheidung, Residenz Verlag, 1984)

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„...Dies ist der Versuch eines komprimierten Familienromans, zugleich ein Reisebericht, der an einen Ort führt, wo die Kriegsschäden an den Menschen und deren Behausungen noch unverhüllt sichtbar sind. Lena und Stefan, von den gegensätzlichen Seiten der Geschichte kommend, unternehmen, sich zwischen Überlebenden und deren Nachkommen bewegend, einen Versöhnungsversuch...“ (Klappentext)

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