DB-86 31 (Du bist meine neue Therapeutin)

31


Du bist meine neue Therapeutin. Du sagst, ich soll alles vergessen, hast aber einen Lebenslauf verlangt. Du sagst, ich erscheine hier in diesem kahlen Zimmer, dessen Möbel nur zwei Sessel sind, auf denen wir einander gegenüber sitzen, nur als Körper, als Körper, der ankommt, schwitzt, weil er zu spät aus der Straßenbahn ausgestiegen ist, weil er sich in Sicherheit gewiegt hat, weil er dachte, er würde noch zurechtkommen. Mein Körper ist rechtzeitig in die Straßenbahn eingestiegen, hätte noch genug Zeit gehabt, um sich deiner Ordination gemächlich anzunähern. Aber auf einmal habe ich bemerken müssen, daß ich eine (die einzig richtige) Station übersehen habe, weshalb ich überraschenderweise schnell gehen mußte, nach dem richtigen Weg fragen, mir Sorgen machen, daß ich nicht zur ausgemachten Zeit bei dir eintreffe. Daher der Schweiß.

Du fragst, ob ich Schmerzen habe. ja, ich habe Schmerzen. Das Übliche, der Kopf. Der Kopf schmerzt, wie so oft, aus unerklärlichen Gründen. Auf einmal ist der Kopfschmerz da, dann ist er wieder weg. Achte ich auf den Schmerz, ist er nicht da. Oder er ist mit äußerster Heftigkeit da. Manchmal, wenn ich zur Arbeit gezwungen bin, wenn ich eine Verabredung einhalten muß, nehme ich ein Apa oder auch ein Gewadal, selten zwei. Ich spüle die Tablette in mich hinein und warte darauf, daß sich der Schmerz beruhigt.

Du sagst, ich soll meinen Körper beobachten, soll darauf hinarbeiten, mich zu entspannen. Wie kann ich mich auf diesem Sessel, diesem Folterstuhl, entspannen? Es ist ein furchtbarer Sessel, der wenig Halt gibt, hart und glatt ist. Ich hätte mir hier einen komfortableren Sessel gewünscht, einen, wo das Entspannen leichter gelingt.

(Die Berliner Entscheidung, Residenz Verlag, 1984)

Siehe auch:

Kap. 1: 1, 2, 3
Kap. 2: 4, 5, 6
Kap. 3: 7, 8, 9
Kap. 4: 10, 11, 12
Kap. 5: 13, 14, 15
Kap. 6: 16, 17, 18
Kap. 7: 19, 20
Kap. 8: 21, 22
Kap. 9: 23, 24
Kap. 10: 25
Kap. 11: 26, 27, 28
Kap. 12: 29, 30
Kap. 13: 31, 32
Kap. 14: 33
Kap. 15: 34, 35, 36
Kap. 16: 37, 38, 39, 40
Kap. 17: 41, 42
Kap. 18: 43, 44, 45
Kap. 19: 46, 47, 48
Kap. 20: 49, 50, 51

***

Vielleicht auch ein Blick hierher.

Trackback URL:
https://earichter.twoday.net/stories/db-86-31-du-bist-meine-neue-therapeutin/modTrackback

User Status

Du bist nicht angemeldet.

Free Text (1)

Dieses Weblog wird hier archiviert.

Archiv (ab 1967)

Lyrikbände:

Der zarte Leib

Friede den Männern

Das leere Kuvert

Eurotunnel

Obachter

Schreibzimmer

Romane:

Die Berliner Entscheidung

Originalverpackt oder mit Widmung über e.a.richter(ett)gmx(punktt)at erhältlich.

„...Dies ist der Versuch eines komprimierten Familienromans, zugleich ein Reisebericht, der an einen Ort führt, wo die Kriegsschäden an den Menschen und deren Behausungen noch unverhüllt sichtbar sind. Lena und Stefan, von den gegensätzlichen Seiten der Geschichte kommend, unternehmen, sich zwischen Überlebenden und deren Nachkommen bewegend, einen Versöhnungsversuch...“ (Klappentext)

Fliege. Roman eines Augenblicks

Aktuelle Beiträge

0126-1b A KIND OF DEPARTURE
the lady of the house speech-impaired since an incomprehensible...
e.a.richter - 2015-12-30 07:09
0126-1a AUCH EIN ABGANG
die gnädige frau sprachgestört wohnt sie seit einem...
e.a.richter - 2015-12-26 03:43
0107a - THE TEACHERS
the teachers leave the school the prettiest teacher...
e.a.richter - 2015-12-23 21:27
DT-001 FETISCH
(YVONNE) ihre weiße Bluse steif, ein Fetisch, der...
e.a.richter - 2015-12-21 12:12
DZL-18 DAS BETT
das Bett, das alles verraten wollte und nichts verriet:...
e.a.richter - 2015-10-07 04:22
DZL-17 PUPPI
was zu sehen ist, in einzelne Stücke zerlegen; alle...
e.a.richter - 2015-06-02 08:44
DZL-01 WIR GLAUBTEN AN...
wir glaubten an das Blut. Dieses Wir ist mit Vorsicht...
e.a.richter - 2015-05-07 13:59
DZL-02 MEIN PATTEX
mein Zauberer hieß nicht Pattex, nicht Expatt. Er lebte...
e.a.richter - 2015-05-07 13:58
DZL-03 DER ZARTE LEIB
Zartleibigkeit wird vermißt, auch intensive Zartlebigkeit....
e.a.richter - 2015-05-07 13:56
DZL-04 - ZU MEINER ZEIT
zu meiner Zeit war gar keine Zeit. Die Zeit hatte sich...
e.a.richter - 2015-05-07 13:55
DZL-06 IN DIE HÖHE SINKEN
schwierig zu lesen: Er begriff seine Geschichte. Blatt...
e.a.richter - 2015-05-07 13:53
DZL-07 TISCHLERPLATTE
mein Vater, Tischler, hatte keine Tischlerplatte, er...
e.a.richter - 2015-05-07 13:52
DZL-08 GOLD, GLANZ, HEITERKEIT
sie sagt, ich bin älter als mein Vater, als er zu...
e.a.richter - 2015-05-07 13:51
DZL-09 WIR GLAUBTEN AN...
wir glaubten an das Blut. Dieses Wir ist mit Vorsicht...
e.a.richter - 2015-05-07 13:51
DZL-10 BRAUTMASCHINE
ein Mann braucht nur eine Wand und eine Braut. Er braucht...
e.a.richter - 2015-05-07 13:50
DZL-11 SCHWIMMERIN
wenn sich das Tor geöffnet hat, fährt allen in ihren...
e.a.richter - 2015-05-07 13:50
DZL-12 FRESSEN UND WUCHERN
Gedichte zu fressen ist nicht meine Sache. Ich lese...
e.a.richter - 2015-05-07 13:49
DZL-13 KONTROLLE VERLIEREN
Kontrolle verlieren, im Nebenraum, wo alles aufgetürmt...
e.a.richter - 2015-05-07 13:49
DZL-14 MUNDSCHUTZ FÜR...
es begann mit strahlenden Augen, auf einer Schnitzerei...
e.a.richter - 2015-05-07 13:48
DZL-15 JUNGE FRAUEN...
dem kleinen Mann macht die Situation einen Gefallen: zwei...
e.a.richter - 2015-05-07 13:48

Free Text (2)

Free Text (3)

Archiv

März 2013
Mo
Di
Mi
Do
Fr
Sa
So
 
 
 
 
 1 
 3 
 5 
 7 
 9 
10
12
13
15
17
19
20
22
24
26
28
29
30
31
 

Suche

 

Status

Online seit 5057 Tagen
Zuletzt aktualisiert: 2016-01-06 11:08

Credits


A Roma etc.
Das leere Kuvert
Der zarte Leib
Detonation und Idylle
Die Berliner Entscheidung
Erste Instanz
Eurotunnel
Fliege (Notizen)
Friede den Männern
Jetzt
Licht, Schatten
Namen
Obachter
Pessimismus & Erfahrung
Schreibzimmer
Stummfilmzeit
... weitere
Profil
Abmelden
Weblog abonnieren