DB-59 (22) (Stefan packt Lenas Hand)

Stefan packt Lenas Hand: Sie ist feucht und warm. Sie bleiben lauschend stehen, hören ein Geräusch und überlegen lang, ob das, was sie vernehmen, ein Wasserrauschen sein könnte, und tappen sich weiter, bis sie zu einem steilen Abhang gelangen, wo sich ihre Vermutung bestätigt. Sie beschließen, am Wasser entlangzugehen, bis sie auf eine Brücke stoßen, die es ja irgendwo geben muß.

Ich habe befürchtet, sie rutscht aus, sagt Stefan, gleitet den Abhang hinunter, und ich finde sie nicht mehr, sie ertrinkt; was da unten rauscht, ist ein reißender Fluß. Also hab ich sie an mich gedrückt, und so haben wir uns über Steine, Grasbüschel, aus der Erde ragende Wurzeln zwischen Baumstämmen und Gebüschruten immer weiter zum Wasser hinunter vorgearbeitet, zwischendurch lauschend, aber wir haben nur unseren Atem gehört, unsere Stimmen, das Knacken der Äste unter unseren Füßen.

Im Talgrund nahe beim Wasser hätte die Phosphoreszierende Frau erscheinen sollen. Ein Feuerwerk hätte die Dunkelheit aufhellen müssen, Böllerschüsse, Ohrenschmaus, der Marsch der Zeit ertönt.

Stefan schaut zu Götz hinauf und stockt. Denn der thront bereits weit über ihm, schüttet sich pausenlos scharfen Schnaps auf die Zunge und spült seine Mordgelüste - sicherlich Oskar betreffend - wortlos hinunter.

Lena rettet die beiden Männer vor einem unvermeidlichen Mißverständnis und reißt den Schluß der Erzählung an sich. Sie hätten sich danach am Waldrand vorangearbeitet, ohne Zeitgefühl, mit immer schwerer werdenden Füßen, weil die schneenasse Ackererde sich angeklebt hat, sie aufsaugen wollte.

Schließlich sind sie gegen einen Hochstand geprallt, der ihnen im Moment als Rettung erschienen ist. Oben war ihnen aber die Vorstellung einer Nacht von mindestens zehn Stunden bei zunehmender Kälte, womöglich noch mit einem eisigen Sturm, der sie zwingen würde, die Leiter rauf- und runterzuklettern oder den Hochstand überhaupt zu verlassen, Anstoß genug, die Suche nach einer Straße oder einem asphaltierten Weg fortzusetzen.

Das Erschreckende, fügt Stefan hinzu, war diese Geräuschlosigkeit, so als ob alles Menschliche rundherum versunken wäre, jedes Leben erstorben, nur Welt knapp hinterm Urknall. Dazu draußen vor den Fenstern bereits das Knattern und Krachen, herinnen das drohende Wiedererscheinen der übernächtigen Kinder.

Und die Rettung, schließt Götz dieses Kapitel, sonst säßet ihr ja nicht hier, ist ein Weg gewesen, der euch hinausgeführt hat.

Und eine matte Straßenlaterne, nickt Lena, jetzt beinahe phosphoreszierend im Nebel der Zigaretten, noch auf Stefans Seite der Front, die quer durchs Zimmer läuft. Genossen, zitiert sie, mit dem ersten Signal schießen wir vorwärts und zerreißen die altersschwache Zeit. Die Zukunft nimmt jeden auf, den mindestens eine Eigenschaft mit dem Kollektiv der Kommune verbindet ...

(Die Berliner Entscheidung, Residenz Verlag, 1984)

(Seitenblick: B-15 PALME/RICHTEX, BAHNALOG)

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„...Dies ist der Versuch eines komprimierten Familienromans, zugleich ein Reisebericht, der an einen Ort führt, wo die Kriegsschäden an den Menschen und deren Behausungen noch unverhüllt sichtbar sind. Lena und Stefan, von den gegensätzlichen Seiten der Geschichte kommend, unternehmen, sich zwischen Überlebenden und deren Nachkommen bewegend, einen Versöhnungsversuch...“ (Klappentext)

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