DB-62 (23) (Ich bemerke mit Erstaunen die andere Seite dieses Mannes)
Götz erkundigt sich höflich, ob ich noch in der Lage wäre, die Vergrößerung der restlichen Fotos durchzustehen, oder lieber ins Bett wolle, worauf ich ihn (aus einer rätselhaften Euphorie heraus) zum Weitermachen anfeuere.
Er belichtet weitere Papiere, läßt sie im Entwicklerbad kommen. Diesmal sind auch Fotos von den Kindern und Beate darunter, die aber Götz als Schnappschüsse abtut. Er lenkt meine Aufmerksamkeit wieder auf die Landschaften. Paradoxerweise stimuliert mich diese glasige Verlassenheit, diese tödliche Kälte von neuem. Alles ist warm und spannend. Auseinandergesplitterte Bäume, Blüten. Dieser blühende, strotzende Mann und diese jetzt so verhärmte Frau. Auf dem nächsten Bild etwas runder, noch vor der Abtreibung.
Nebenher, zwischen den abgestimmten Handgriffen, fragt mich Götz, wie es denn bei mir gewesen sei damit.
Womit denn?
Ja mit dem Bauch, ob der denn auch ganz mir gehört habe, ob ich auch so unverschämt darüber verfügt habe wie seine Frau.
So spricht eindeutig der Feind. Der Mann ohne Feingefühl, der Mann im Alkoholnebel, der Mann, der sich die Frau nur an den Schwanz hält, um in sie hineinzuonanieren, dann furchtbar erstaunt tut, wenn sie ihn zur Verantwortung ziehen will.
Die Stimmung ist weg, ich verdrücke mich unter Berufung auf meine Müdigkeit. Im Bett fühle ich mich aufgerieben, hinfällig.
Jetzt erfährst du endlich etwas Neues, ich sags von selbst. Damals hab ich ein Jahr geschwiegen, auf der Couch liegend, und hinter dem Paravent war nur das Atmen des Analytikers zu hören, wie er ab und zu an seiner Pfeife gesogen hat. Und zu sehen waren nur seine karierten Pantoffeln, aus denen er ab und zu seine Füße zurückgezogen hat, ohne die Stellung der Pantoffeln zu ändern. Der Analytiker hat ein Jahr nichts gesagt, ich auch nicht. Mein Vater hat ihn tapfer bezahlt.
Als ich dieses Schweigen, diese stummen Fußbewegungen nicht mehr aushielt, hab ich unter Tränen zuerst einmal die Geschichte vom Tüllkleid loswerden müssen. Meine Mutter, guten Willens, hat es mir für den ersten Schultag im Gymnasium genäht. Wie ich dann in die Klasse getreten bin, haben mich die anderen angestarrt, als wäre ich von einem anderen Stern.Und ein Gegrinse und Gelächter ist losgegangen, alle haben sich über mich lustig gemacht: Schaut euch die an! Die verwechselt die Schule mit einem Ballett! Sie haben über mich gelacht, nicht über meine Mutter, die mir das angetan hat.
(Die Berliner Entscheidung, Residenz Verlag, 1984)
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