DB-66 (24) (Mein Interesse, beginnt Stefan)

Mein Interesse, beginnt Stefan vorsichtig, basiert auf einer Beobachtung. Sie sei die einzige des Familienclans, die keine Weiterbildung anstrebe.

Julia legt ihre Hand neben die seine und schaut mit Unwillen in den Augen zu ihm auf. Sie habe für Mann und Kinder zu sorgen, fühle sich bildungsmäßig überhaupt nicht benachteiligt, sei kein Mensch, der andere unbedingt nachäffe. Außerdem sei Bildung eine Waffe im Konkurrenzkampf, und Waffen habe sie nicht nötig.

Stefan bohrt weiter: Und ihr Ehrgeiz? Wie könne sie denn ruhig zusehen, wenn sich ihr Mann von einer Stufe zur anderen weiter emporhantele, sie aber immer auf dem gleichen Niveau bleibe.

Julia hat plötzlich rote Flecken im Gesicht. Ohne ihre Stellung zu verändern, blickt sie ihm starr in die Augen, blank abwehrend: Er kenne sie nicht, stelle Sachen über sie fest, einfach so ins Blaue hinein, lege sie in eine seiner importierten Schubladen, zu, basta, nun sei sie da drinnen und habe so zu sein, wie er glaube, daß sie sei.

Sie steigert sich: Seine grenzenlose Anmaßung verdrieße sie. Er habe nur den familiären Vertrauensvorschuß benützt, um sich einzuschleichen und sie unter noch aufzuklärenden Begleitumständen zu einem Gespräch unter vier Augen zu erpressen.

Stefan wischt ihre Anschuldigungen mit einem verlegen aufbegehrenden Grinsen weg. Sie hat ihn angestochen, jetzt kommt er in Fahrt, dafür ist sie verantwortlich, nicht er. Sie sei ihm vertraut, erklärt er, weil er sich mit ihr vertraut gemacht habe. Er habe die ganze Zeit an sie gedacht, habe einem Julia-Denk- und -Vorstellungszwang gefrönt, ohne sich dafür schuldig zu fühlen. Er könne nichts dafür, wenn er überall nur sie gesehen habe, wenn er nicht habe schlafen können, obwohl er ja eigentlich Lena habe sehen wollen. Daß sich ihr Bild immer auf das von Lena gelegt habe, dafür sei er nicht verantwortlich.

Der Ansatz eines Lächelns in Julias Gesicht verschwindet. Sie läßt sich zurück an die Lehne ihres Sessels fallen, faßt mit beiden Händen die Enden ihres Mantels und zieht sie rasch zur Mitte.

Sein heftiges Interesse, beschwört Stefan sie, habe er doch nicht erfunden. Hätte er sie nicht kennengelernt, hätte er sie auch nicht zum Gegenstand seiner Phantasien machen können. Er sei also sozusagen von selbst - und nicht nur im Traum - in eine Art Verliebtheit geraten, die sie zumindest wahrnehmen müsse, auch wenn sie diese nicht akzeptieren könne, bei ihren strengen Maßstäben.

Was sie jetzt sagen solle. Julia faßt sich mit ihren Hexenfingern an ihre Hexennase, streicht mit dem rechten Zeigefinger nachdenklich über den Nasenrücken. Und wie unter einem Mikroskop sieht Stefan die weiße, glatte Haut, die ihren Fingerknochen umgibt, den glänzenden, abgerissenen Nagel, die rosigen Fleischflächen darunter, die winzigen Wölkchen darin und die hellen Monde näherkommen, als würde seine Augen in der nächsten Sekunde mit ihnen verschmelzen.

(Die Berliner Entscheidung, Residenz Verlag, 1984)

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„...Dies ist der Versuch eines komprimierten Familienromans, zugleich ein Reisebericht, der an einen Ort führt, wo die Kriegsschäden an den Menschen und deren Behausungen noch unverhüllt sichtbar sind. Lena und Stefan, von den gegensätzlichen Seiten der Geschichte kommend, unternehmen, sich zwischen Überlebenden und deren Nachkommen bewegend, einen Versöhnungsversuch...“ (Klappentext)

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