Mittwoch, 2. Januar 2013

DB-56 (22) (Mongo)

Mongo.

Das ist vielleicht mongo, sagt er und bleckt die Zähne. Mongo, nach einem chilenischen Comic aus den fünfziger Jahren, fügt er hinzu, von ihm aufgegriffen auf Anregung durch einen chilenischen Flüchtling, der den Alexanderplatz so nannte, weil er ihn an die Darstellung zukünftiger Städte erinnert hat. Mongo, das ist die Haltung, die eine solche Stadt hervorbringt, ein Wohnkästchen neben und über dem anderen, eine Menschenschachtel neben und über der anderen.

Götz greift nach einer Mappe im Regal links neben ihm und holt eine Zeichnung heraus, die die Dehnbarkeit dieses Begriffs demonstrieren soll. Ein grünschwarzes Menschenmonster - auch das ist mongo. Mongolisch, mongoloid. Wer ist hier nicht mongo, wir alle sind mongo, auch ich bins, wenn ich so etwas anfertige.

Er zeigt eine von ihm entworfene Postkarte: Rotes Herz hinter grauem Gitter; darüber der Text: Ein herzhaftes 1983. Mongo bin ich aber auch, weil ich zu feig war, es zu verschicken, damit ich keinen Ärger bekomme. Er blickt zu Beate: Und du bist mongo, weil deine Familie mongo ist.

Ärger.

Götz dämpft seine Zigarette im leeren Schnapsglas vor ihm kraftvoll aus. Bevor sie bei der Frau König eingezogen sind, sagt er, ist er mehrmals hier herumgegangen, um die Leute zu fragen, wie denn das Wohnen in der Gegend sei. Dabei ist er an ein älteres Ehepaar geraten, das sofort aggressiv reagiert hat. Die Frau habe die Handtasche gegen ihn erhoben, der Mann habe sich nicht ausreden lassen, er sei ein ZDF-Reporter und wolle die Leute zu Aussagen über die hiesige Umweltverschmutzung erpressen. Wenn das nicht mongo ist!

Traum.

Er habe - im Traum - einen Antrag für eine Reise nach West-Berlin gestellt. Ein S-Bahn-Fahrer habe ihn aber, bevor irgendeine Antwort eintraf, mehrmals nach drüben mitgenommen, sozusagen auf Probe.

Einmal bin ich in einem riesigen Kaufhaus gelandet, sagt Götz, im KADEWE, und staunend und völlig euphorisch an den vollgefüllten Regalen vorbeigezogen, von einem Stockwerk zum anderen, und immer noch dieses Überangebot, diese Unmenge verschiedenster Waren, bis in den letzten Winkel. Schließlich habe ich in der Käseabteilung haltgemacht und mich nicht satt sehen können an den mehr als hundert Sorten aus Italien, Frankreich, Spanien, Griechenland, Österreich, Westdeutschland, Holland und Dänemark.

Bei einer Selbstbedienungskassa in der obersten Etage habe ich eine Portion BULEX verlangt, in der Meinung, das sei etwas völlig Exotisches, das sei ein von mir irgendwann erfundener Markenname für eine himmlische Speise, die ich mir ausgedacht habe. Ich habe mich setzen müssen - auf meine eigenen Unterarme, denn Sitzgelegenheiten hat es keine gegeben -, und die Verkäuferin hat mir mit der größten Selbstverständlichkeit eine riesige Portion BULEX über die Theke gereicht, wobei ich mich nachher nicht mehr erinnern konnte, woraus das Gericht eigentlich bestanden und wonach es geschmeckt hat.


(Die Berliner Entscheidung, Residenz Verlag, 1984)

(Seitenblick: B-13 PALME/RICHTEX, BAHNALOG)

User Status

Du bist nicht angemeldet.

Free Text (1)

Dieses Weblog wird hier archiviert.

Archiv (ab 1967)

Lyrikbände:

Der zarte Leib

Friede den Männern

Das leere Kuvert

Eurotunnel

Obachter

Schreibzimmer

Romane:

Die Berliner Entscheidung

Originalverpackt oder mit Widmung über e.a.richter(ett)gmx(punktt)at erhältlich.

„...Dies ist der Versuch eines komprimierten Familienromans, zugleich ein Reisebericht, der an einen Ort führt, wo die Kriegsschäden an den Menschen und deren Behausungen noch unverhüllt sichtbar sind. Lena und Stefan, von den gegensätzlichen Seiten der Geschichte kommend, unternehmen, sich zwischen Überlebenden und deren Nachkommen bewegend, einen Versöhnungsversuch...“ (Klappentext)

Fliege. Roman eines Augenblicks

Aktuelle Beiträge

0126-1b A KIND OF DEPARTURE
the lady of the house speech-impaired since an incomprehensible...
e.a.richter - 2015-12-30 07:09
0126-1a AUCH EIN ABGANG
die gnädige frau sprachgestört wohnt sie seit einem...
e.a.richter - 2015-12-26 03:43
0107a - THE TEACHERS
the teachers leave the school the prettiest teacher...
e.a.richter - 2015-12-23 21:27
DT-001 FETISCH
(YVONNE) ihre weiße Bluse steif, ein Fetisch, der...
e.a.richter - 2015-12-21 12:12
DZL-18 DAS BETT
das Bett, das alles verraten wollte und nichts verriet:...
e.a.richter - 2015-10-07 04:22
DZL-17 PUPPI
was zu sehen ist, in einzelne Stücke zerlegen; alle...
e.a.richter - 2015-06-02 08:44
DZL-01 WIR GLAUBTEN AN...
wir glaubten an das Blut. Dieses Wir ist mit Vorsicht...
e.a.richter - 2015-05-07 13:59
DZL-02 MEIN PATTEX
mein Zauberer hieß nicht Pattex, nicht Expatt. Er lebte...
e.a.richter - 2015-05-07 13:58
DZL-03 DER ZARTE LEIB
Zartleibigkeit wird vermißt, auch intensive Zartlebigkeit....
e.a.richter - 2015-05-07 13:56
DZL-04 - ZU MEINER ZEIT
zu meiner Zeit war gar keine Zeit. Die Zeit hatte sich...
e.a.richter - 2015-05-07 13:55
DZL-06 IN DIE HÖHE SINKEN
schwierig zu lesen: Er begriff seine Geschichte. Blatt...
e.a.richter - 2015-05-07 13:53
DZL-07 TISCHLERPLATTE
mein Vater, Tischler, hatte keine Tischlerplatte, er...
e.a.richter - 2015-05-07 13:52
DZL-08 GOLD, GLANZ, HEITERKEIT
sie sagt, ich bin älter als mein Vater, als er zu...
e.a.richter - 2015-05-07 13:51
DZL-09 WIR GLAUBTEN AN...
wir glaubten an das Blut. Dieses Wir ist mit Vorsicht...
e.a.richter - 2015-05-07 13:51
DZL-10 BRAUTMASCHINE
ein Mann braucht nur eine Wand und eine Braut. Er braucht...
e.a.richter - 2015-05-07 13:50
DZL-11 SCHWIMMERIN
wenn sich das Tor geöffnet hat, fährt allen in ihren...
e.a.richter - 2015-05-07 13:50
DZL-12 FRESSEN UND WUCHERN
Gedichte zu fressen ist nicht meine Sache. Ich lese...
e.a.richter - 2015-05-07 13:49
DZL-13 KONTROLLE VERLIEREN
Kontrolle verlieren, im Nebenraum, wo alles aufgetürmt...
e.a.richter - 2015-05-07 13:49
DZL-14 MUNDSCHUTZ FÜR...
es begann mit strahlenden Augen, auf einer Schnitzerei...
e.a.richter - 2015-05-07 13:48
DZL-15 JUNGE FRAUEN...
dem kleinen Mann macht die Situation einen Gefallen: zwei...
e.a.richter - 2015-05-07 13:48

Free Text (2)

Free Text (3)

Archiv

Januar 2013
Mo
Di
Mi
Do
Fr
Sa
So
 
 1 
 3 
 5 
 7 
 9 
11
13
15
17
18
20
22
24
28
30
31
 
 
 
 

Suche

 

Status

Online seit 5057 Tagen
Zuletzt aktualisiert: 2016-01-06 11:08

Credits


A Roma etc.
Das leere Kuvert
Der zarte Leib
Detonation und Idylle
Die Berliner Entscheidung
Erste Instanz
Eurotunnel
Fliege (Notizen)
Friede den Männern
Jetzt
Licht, Schatten
Namen
Obachter
Pessimismus & Erfahrung
Schreibzimmer
Stummfilmzeit
... weitere
Profil
Abmelden
Weblog abonnieren