DB-61 23 (Vor mir Götz)
Du weißt ja, wie das ist, wenn Stefans Gesicht so plötzlich schlaff wird, so unvital, so abweisend: Er gähnt, bringt den Mund nicht mehr zu, und ich werde immer wacher, wach vor Enttäuschung, daß er gerade jetzt nichts zu bieten hat.
Ich hab ihn dir immer als Ausbund an Regelmäßigkeit, besorgt um seine Verdauung, an die Wand gemalt, als einen mit panischer Angst vor Schlaflosigkeit, vor meinem heißen Körper, der ihm trotz seines geringen Gewichts bald zu schwer wird, den kostbaren Moment des Wegsinkens verhindern könnte.
Immer wieder dieser ängstliche, distanzierende Blick, der dich vermuten läßt, das Schlimmste der Welt stünde ihm bevor. Nicht anrühren, nicht aufhalten, soll er doch allein ins kalte Neujahrs-Schlafzimmer taumeln, allein den Rest der ersten Nacht bewältigen müssen.
Du kannst ruhig die Brauen runzeln wegen soviel Ungerechtigkeit. Aber ich bestehe auf meinem Recht, dir einmal nicht nachzueifern, deine Maximen außer acht zu lassen, auch wenn es mir vor deinem zu erwartenden zynischen Lächeln alles zusammenzieht. Du wirst schuld an meinen Bauchschmerzen, an meiner Verstopfung sein.
Ich stilisiere dich natürlich wissentlich zu einer Übergöttin, zum Beobachterauge einer mich führenden, mich nicht im Elend allein lassenden, nur widerwillig gutmütigen Mutter. Nie sagst du etwas, immer deutest du nur. Aber deine Zeichen sind minimal und immer doppelsinnig.
Du hast mir nicht verboten, hinter diesem Mannsbild herzuschleichen. Du hast ihn nicht als meinen Feind gekennzeichnet.
Er hat weder ja noch nein gesagt, als ich ihm hinter den Vorhang gefolgt bin. Aber er hat mit mir wetten wollen, daß er sehr wohl noch in der Lage sei, trotz seiner Sekt-Schlagseite, tadellose Vergrößerungen zustande zu bringen. Ich habe nur seine überzeugenden Muskeln gesehen, seinen breiten Rücken, seine dichte Haarbürste, umgeben von bläulichem Elmsfeuer.
Er hat behauptet, er könne auch in diesem Licht seine Filme verarbeiten. Er hat geleugnet, daß etwas davon auf ihnen sichtbar werden würde, ihrer Qualität abträglich sein könnte.
In den Schalen schwimmen bereits einige belichtete Papiere. Er sagt, für ihn sei das der wahre Moment der Schöpfung, wenn quasi aus dem Nichts das Bild auftauche. Er brüstet sich mit seiner Kunst, sich fotografisch Landschaften anzueignen.
Es gehe um Blickwinkel, Standpunkte, Überschneidungen, Gewichtsverteilung von Schwarz und Weiß. Was zum Vorschein kommt, sind Fotos von großer Ausdruckskraft, eindringliche Dokumente der Kälte und Trostlosigkeit. Dünen, verwehter Schnee, gefrorene Flächen, Schotterstreifen, bizarres Gestrüpp. Dahinter das Meer: heranrollende, eiskalte Wogen, gläsern erstarrt. Keine Farben, nur Licht und Schatten. Keine dramatischen Blitze, nur eine mittelmäßige Düsternis.
Er liebe den mittelgrauen Grundton, gesteht Götz, die feinen Übergänge von einem Grau zum andern, die Plastizität, die sich aus den Abstufungen, nicht aus den Gegensätzen aufbaut.
(Die Berliner Entscheidung, Residenz Verlag, 1984)