DB-63 (23) (Schweigen)
Jetzt mußt du mir zuhören, über tausend Kilometer hinweg. Ich hatte damals ein Verhältnis mit einem Katholiken. Ich war ausgehungert, verurteilt, den ganzen Tag als Erzieherin im Internat zu verbringen, und da war dies der einzige Mann, der sich im Moment angeboten hat, und ich habe dieses Angebot trotz der Warnung meines Gefühls angenommen.
Vielleicht wollte ich mich nur demütigen, indem ich mit einem Katholiken, der mich sofort niedermachte, verkehrt habe - zuerst redend in meinen Kaffeehäusern, dann irgendwo auch sexuell.
Wie ich schon vorher wegen dieses Wegwerfens auf mich gezeigt habe, so hat er nachher in Wirklichkeit auf mich gezeigt. Gerade, daß er mich nicht ausgelacht hat. Ich war nichts wert. Eine Frau, die sich vor der Ehe mit einem Mann einläßt, verdient nur Verachtung.
Dabei hat er mich hineingelegt, indem er immer wieder betont hat, er sei sterilisiert. Ich war arglos, froh, endlich keine Verhütungssorgen haben zu müssen. Als es dann doch passiert ist, kam er mit seinem furchtbaren Zeigefinger: Das sei die einzig richtige Strafe für eine Hure wie mich.
Damit waren die kurzen Momente der Zärtlichkeit vorbei. Ab nun regierten nur mehr die Angst und die hirnverbrannte Religion dieses Mannes. Er hat weder etwas bezahlt noch sich sonst um mich gekümmert. Ich war gestolpert, und zwar über ihn. Daher konnte er mir nicht helfen, mich aufzurichten.
Nun bekam wieder einmal mein Vater Gelegenheit, mir zur Hand zu gehen. Zielstrebig und konspirativ hat er die Abtreibung vorbereitet. Da weder die Internatsleitung noch die Kolleginnen davon erfahren durften, kam nur der Samstagnachmittag in Frage.
Nach Unterrichtsschluß hat mich mein Vater abgeholt und zu einem ihm befreundeten Gynäkologen gefahren. Der war zwar willig, aber ohne die passenden technischen Hilfsmittel. Gleich, nachdem er mir seine Spritze verpaßt hat, hab ich ihm die Ordination vollgekotzt. Er hat geschabt, und ich hab mir auf die Lippen gebissen, um nicht zu brüllen.
In dieser Minute hab ich beschlossen, darüber nie ein Wort zu verlieren. Danach hätte ich pausenlos weinen können.
Mein Vater hat mich übers Wochenende nicht aus den Augen gelassen und immer wieder versucht, mein Schweigen aufzubrechen. Aber so, wie sich meine Gebärmutter verschlossen hatte, verschloß sich auch mein Mund. Meine Erinnerung war in meiner Gebärmutter aufbewahrt, in sie sollte nichts mehr hinein.
Plötzlich rührt sich etwas neben mir, ich schrecke auf. Stefan sagt, ich hätte im Schlaf gewinselt und sei auch durch sein Streicheln nicht zu beruhigen gewesen. Ich schiebe das auf meinen Schwips. Er fragt mich, ob ich denn wirklich zwischen Götz und Beate gelandet sei. Ich schüttle den Kopf und versuche, nicht an den zerstückelten Fötus zu denken.
(Die Berliner Entscheidung, Residenz Verlag, 1984)