DB-58 (22) (Jetzt kommt das Parallelogramm in Bewegung)

Jetzt kommt das Parallelogramm in Bewegung, Beate verläßt ihren Platz, Lena rückt unmerklich näher zu Götz, läßt ihrer Hand, ihrem Arm viel weniger Spielraum neben seinem Körper als vorher, Stefan aber wird von einer Erinnerung an ein Erlebnis überwältigt, das er zum Angelpunkt der Beziehung zu Lena erklärt.

Er muß ihr signalisieren, daß es hier noch seinen festen Willen gibt, eine eindeutige Erinnerungsstruktur, die ihn und Lena als ein stabiles Paar erscheinen läßt, ein selbstverständlich wirkendes Vergewissern des Daseins durch einen Griff auf ihren stacheligen Schädel, den er gleich in eine Streichelbewegung in Richtung Nacken umlenkt, um dieser Geste das Gewicht zu nehmen, das ihr die andern vielleicht beimessen könnten, wären sie aufmerksame Beobachter.

Eine Prüfung sondergleichen zu zweit, sagt Stefan und blickt Lena an, die sich nun etwas aufrichtet und von Götz wegrückt, um sich vielleicht, durch ihn, Stefan, hindurch, Oskar anzunähern, lächelnd in Richtung Oskar zu blicken mit ihren weit aufgerissenen, grünbraunen Augen, braungrün konturiert, einem zarten, vielschichtig abgestuften Gewölk in der Iris, einer kleinen, den Raum und die Szene widerspiegelnden Pupille, Stefan eingeschlossen, was er aber nicht wahrnimmt.

Damals ist es noch hell gewesen, erinnert sich Stefan laut, etwa fünf Uhr nachmittags, als sie den Wald betreten haben, auf einer schnurgeraden Forststraße, die sie sofort in Versuchung geführt hat, von ihr abzuweichen, um sich auf den nur notdürftig kenntlichen, verschlungenen Seitenpfaden weiterzubewegen, wobei sie die Richtung verloren haben.

Obwohl sie glaubten, sie würden auf die Forststraße zugehen, entfernten sie sich immer weiter von ihr. Die Dunkelheit nahm schnell zu, Nebel fiel ein, und das Ganze geriet zu einer Wasser- und Feuerprobe ihrer Nerven. Während sie mit rasch abnehmender Hoffnung, je wieder zurückzufinden, weiterschritten, wurden sie Opfer aller möglichen Sinnestäuschungen. Sie glaubten Geräusche zu hören - von Autos, Flugzeugen, Menschen. Wenn sie sich ihnen näherten, verstummten sie, ertönten aber bald danach aus einer ganz anderen Richtung.

Dieses Umschlagen von Gerade-noch-Lustig-Finden in die immer stärker beklemmende Angst. Dieses Um-jeden-Preis-das-Gesicht-nicht-verlieren-Wollen. Diese winzigen, schnell verglühenden Hoffnungsblitze. Und dies alles bei zunehmender Finsternis, während sie der Nebel immer mehr einhüllt, bis sie schließlich versinken in einer blinkenden, gleichmäßig wattierten Nacht, in der sie sich in Handreichweite nur als etwas hellere Schemen von der Umgebung abheben.

Das Gewünschte tritt nicht ein, der erlösende Weg zeigt sich nicht. Also bleibt nur das messerscharfe Urteil oder die Rückbesinnung auf rudimentäre Instinktschichten oder Kindheitserlebnisse, Abenteuergeschichten, in denen die Helden keineswegs im Nebel umkommen oder plötzlich in ein schwarzes Loch fallen oder von einem lautlos heranschwebenden Riesenvogel entführt bzw. gerettet werden.

(Die Berliner Entscheidung, Residenz Verlag, 1984)

(Seitenblick: B-14 PALME/RICHTEX, BAHNALOG)

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„...Dies ist der Versuch eines komprimierten Familienromans, zugleich ein Reisebericht, der an einen Ort führt, wo die Kriegsschäden an den Menschen und deren Behausungen noch unverhüllt sichtbar sind. Lena und Stefan, von den gegensätzlichen Seiten der Geschichte kommend, unternehmen, sich zwischen Überlebenden und deren Nachkommen bewegend, einen Versöhnungsversuch...“ (Klappentext)

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