DB-67 (24) (Was soll ich jetzt sagen, wiederholt Julia)

Was soll ich jetzt sagen, wiederholt Julia.

Stefan starrt sie schweigend an, fixiert ihre Augen mit den seinen, verdreht diese wie ein Verrückter und schiebt ihr unmerklich seine aufgeschlagene Handfläche hin. Sie soll ihn jetzt prügeln, kratzen, streicheln; sie soll seine Hand umdrehen, sie zwischen ihre Beine führen wie ein Schwert oder auf ihre Brust legen wie ein offenes Buch.

Julia rückt aber nicht von der Stelle, hält Stefans zusammengedrückten Augenbrauen, seiner gewölbten Nasenwurzel, seinem finster-entschlossenen Blick stand, ohne sich zu rühren, ohne etwas zu sagen.

Die Tür wird geöffnet, neue Gäste drängen herein. Gelächter, Weindunst, Biermünder, schmierige Hände, angetrenzte Gläser, pappige Tischflächen, Brunst aus schlottrigen Hosen.

Siehste, sagt Julia, ohne ihre Stellung zu verändern, du weißt es selbst nicht.
Stefan antwortet mit einem eindeutigen Bekenntnis: Er habe seinen Freund betrogen, sich selbst und Lena. Aber sie, Julia, könne er nicht betrügen, weil es sie gar nicht gebe. Solange sie sich nicht zu ihm bekenne, gebe es sie nicht. Entweder du stellst dich so in mein Leben, daß ich dich wahrnehmen kann, oder es gibt dich nicht!

Ohne auf ihre zunehmende Empörung einzugehen, bezeichnet er Julia als Lenas Doppelgängerin, die ihn zum Narren halten wolle. In Deutschland sei alles doppelt, vor Deutschland müsse man sich hüten, da gebe es keine einfachen Lieben, nur doppelte, die doppelten Streß, doppelte Moral, doppelte Abhängigkeit bedeuteten. Er sei froh, kein Deutscher zu sein.Er habe aber gehofft, sie würde die Chance seiner Exterritorialität auch nützen und sich freiwillig und freudig auf sein Areal begeben.

So habe er von ihr geträumt.Und er habe sie aus einem Traum in sein Leben holen wollen, um für sie auch verantwortlich zu werden. Durch ihren Widerstand, durch ihr Unverständnis zwinge sie ihn zur Flucht.

Julia schüttelt immer heftiger den Kopf, als würde sie das alles nicht glauben können.

Was willst du jetzt hören?
Deine Meinung.
Und wenn ich keine habe?
Ich hab dir alles gesagt.
Du machst es dir leicht.
Und du nicht?
Ich nehm dich doch ernst.
Dich, nicht mich.
Ich mich?
Du dich, nicht mich.
Alles.
Nicht alles, einiges, und auch das nicht.
Wenn du bei Tag und in einem andern Land.
Ich bleib, wenn du.
Du gehst, ja, du gehst, rücksichtslos.

(Die Berliner Entscheidung, Residenz Verlag, 1984)

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„...Dies ist der Versuch eines komprimierten Familienromans, zugleich ein Reisebericht, der an einen Ort führt, wo die Kriegsschäden an den Menschen und deren Behausungen noch unverhüllt sichtbar sind. Lena und Stefan, von den gegensätzlichen Seiten der Geschichte kommend, unternehmen, sich zwischen Überlebenden und deren Nachkommen bewegend, einen Versöhnungsversuch...“ (Klappentext)

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